Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
hatte zu viele zerschlagene Fenster und zertrümmerte Stühle erlebt, um sich so etwas erneut zu wünschen.
    Vor dem großen Glasfenster, das aufs Meer hinausging, stand ein schwerer Holztisch. Sie sah farbenprächtige Papageien dort landen und Brotkrümel aufpicken. Aron ist ins Land der Papageien gezogen. Ich hätte nie gedacht, daß er das tun würde.
    Sie setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl.
    Er war auf einem grauen Sofa zusammengesunken, das Glas in der Hand. »Ich weigere mich, das zu glauben.«
    »Es ist vor sechs Wochen passiert.«
    Er brauste auf. »Warum habe ich nichts davon erfahren?«
    Sie antwortete nicht, sondern blickte hinaus zu den roten und leuchtendblauen Papageien.
    »Verzeih, ich meine das nicht so. Ich verstehe ja, daß du nach mir gesucht hast. Du würdest mich nie im ungewissen gelassen haben, wenn du gewußt hättest, wie du mich erreichst.«
    »Es ist nicht einfach, jemanden zu finden, der sich versteckt hält.«
    Sie blieb dort, ihm gegenüber, die ganze Nacht. Das Gespräch kam und ging, mit langen Pausen. Sie beide beherrschten die Kunst, das Schweigen wandern zu lassen. Auch das war eine Art Gespräch, das hatte sie in der ersten Zeit ihres Zusammenseins gelernt. Auch Artur war ein Mensch, der nicht unnötig sprach. Aber Arons Schweigen hatte einen anderen Klang.
    Sehr viel später sollte sie denken, daß diese Nacht mit Aron wie eine Rückkehr zu der Zeit war, als es Henrik noch nicht gegeben hatte. Natürlich redeten sie von ihm. Die Trauer war überwältigend. Dennoch kamen sie sich nicht so nah, daß sie sich zu Aron aufs Sofa setzte. Es war, als vertraute sie nicht darauf, daß sein Schmerz so stark war, wie er hätte sein müssen bei einem Mann, der sein einziges Kind verloren hat. Das machte sie bitter.
    Sie fragte irgendwann vor der Morgendämmerung, ob er weitere Kinder habe. Er antwortete nicht, sah sie nur verwundert an, und sie glaubte, daß sie seine Antwort deuten konnte.
    In der Morgendämmerung kehrten die roten Papageien zurück. Aron streute Vogelfutter auf den Tisch. Louise ging mit nach draußen. Sie fröstelte. Das Meer weit unter ihnen war grau, die Wellen waren aufgepeitscht.
    »Ich träume davon, irgendwann dort draußen einen Eisberg zu sehen«, sagte er plötzlich. »Einen Eisberg, der den ganzen Weg vom Südpol heraufgetrieben ist.«
    Louise fiel der Brief ein, den sie gefunden hatte.
    »Es muß ein gewaltiger Anblick sein.«
    »Am sonderbarsten ist, daß ein solcher riesiger Berg wegschmilzt, ohne daß wir es sehen können. Ich habe immer von mir selbst gedacht, daß ich auch schmelze, daß ich von selbst zerrinne. Mein Tod wird das Ergebnis einer langsamen Erwärmung sein.«
    Sie sah ihn von der Seite an.
    Er ist verändert, aber dennoch der gleiche, dachte sie.
    Es war in der Morgendämmerung. Sie hatten die ganze Nacht geredet.
    Sie nahm seine Hand. Zusammen blickten sie aufs Meer, hielten nach einem Eisberg Ausschau, der nie kommen würde.
    D rei Tage nach der Begegnung auf der Pier in Wind und Regen und Schmerz schickte Louise ihrem Vater eine Ansichtskarte. Sie hatte ihn vorher bereits angerufen und ihm erzählt, daß sie Aron gefunden habe. Die Verbindung nach Sveg war verblüffend klar gewesen, ihr Vater war ihr sehr nahe gekommen und hatte sie gebeten, Aron zu grüßen und ihm sein Beileid zu bezeugen. Sie hatte die farbenprächtigen Papageien beschrieben, die sich auf Arons Tisch sammelten, und versprochen, ihm ein Bild zu schicken. Sie hatte es in einem Laden am Hafen gefunden, in dem von Eiern bis zu handgestrickten Pullovern und Ansichtskarten alles verkauft wurde. Auf der Karte war ein Schwärm roter Papageien zu sehen. Aron wartete in dem Cafe auf sie, in dem er regelmäßig seine Angeltouren begann und beendete. Sie schrieb die Karte im Laden und warf sie in einen Briefkasten neben dem Hotel, wo sie übernachtet hätte, wenn sie Aron nicht gleich auf der Hafenpier gefunden hätte.
    Was schrieb sie ihrem Vater? Daß Aron als Einsiedler nicht unbequem in einer Holzhütte im Wald lebte, daß er mager geworden war, und vor allem, daß er trauerte.
    Du hattest recht. Es wäre unverantwortlich gewesen, ihn nicht zu suchen. Du hattest recht, und ich hatte unrecht. Die Papageien sind nicht nur rot, sondern auch blau, vielleicht türkis. Wie lange ich bleibe, weiß ich nicht.
    Sie warf die Karte ein und ging dann hinunter zum Strand. Es war ein Tag mit kaltem und klarem Himmel, fast windstill. Kinder spielten mit einem kaputten Fußball, ein

Weitere Kostenlose Bücher