Kennedys Hirn
gemerkt hätten?«
»Es kommt kaum vor, daß jemand kommt und wieder geht, ohne daß ich es bemerke.«
»Aber Sie müssen doch manchmal zum Einkaufen gehen?«
»Dann ist meine Schwester hier. Wenn ich zurückkomme, erzählt sie mir, was war. Wenn Henrik Besuch gehabt oder jemand nach ihm gefragt hätte, so wüßte ich es.« »Als Aron und ich in der Nacht gegangen sind, haben Sie das gehört?«
»Ja.«
»Woher konnten Sie wissen, daß wir es waren?«
»Ich achte immer auf die Schritte. Kein Schritt gleicht exakt einem anderen.«
Ihr ist nicht beizukommen, dachte Louise. Sie hat keine Angst, aber es gibt etwas, was sie davon abhält, mir die ganze Wahrheit zu erzählen. Was hält sie zurück?
Bianca sah zur Uhr. Ihre Ungeduld wirkte echt. Louise beschloß, noch einen Schritt weiterzugehen, selbst auf die Gefahr hin, daß Bianca ganz verstummte.
»Henrik hat in mehreren seiner Briefe von Ihnen erzählt.«
Wieder eine schnelle Veränderung, diesmal in Biancas Körperhaltung. Kaum sichtbar, doch Louise nahm sie wahr.
»Er hat von Ihnen als seiner Vermieterin gesprochen«, fuhr sie fort. »Ich glaubte, Sie seien die Hausbesitzerin. Einen pensionierten Oberst hat er nie erwähnt.«
»Ich hoffe, er hatte nichts Nachteiliges über mich zu berichten.«
»Ganz und gar nicht. Eher das Gegenteil.«
»Was meinen Sie damit?«
Der Schritt war getan. Louise konnte nicht zurück. »Ich glaube, er mochte Sie. Ich glaube, er war insgeheim in Sie verliebt.«
Bianca wandte den Blick ab. Louise wollte weitersprechen, als sie die Hand hob.
»Meine Mutter hat mich ihr ganzes Leben lang erpreßt. Seit ich zwölf und zum ersten Mal verliebt war, hat sie an meinen Gefühlen gezogen und gezerrt. Für sie war meine Liebe zu einem Mann nie etwas anderes als Verrat an ihrer Liebe zu mir. Liebte ich einen Mann, haßte ich sie. Wollte ich mit einem Mann Zusammensein, ließ ich sie im Stich. Sie war furchtbar. Sie lebt noch, aber sie weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich finde es wunderbar, sie zu besuchen, jetzt, wo sie mich nicht mehr erkennt. Mir ist klar, daß sich das brutal anhört, und es ist auch brutal. Aber ich sage, wie es ist, ich kann ihr die Wange streicheln und ihr sagen, daß ich sie immer gehaßt habe, und sie versteht nicht, wovon ich rede. Aber eins hat sie mir beigebracht, nie Umwege zu gehen, niemals unnötig um den heißen Brei herumzureden. Niemals das zu tun, was Sie gerade tun. Also, wenn Sie Fragen haben, stellen Sie sie.«
»Ich glaube, er war in Sie verliebt. Mehr weiß ich nicht.«
»Er hat mich geliebt. Wenn er hier war, haben wir fast jeden Tag miteinander geschlafen. Nie nachts, da wollte er allein sein.«
Louise fühlte, wie etwas in ihr schwarz wurde. Hatte Henrik Bianca angesteckt? Trug sie das tödliche Virus in ihrem Blut, ohne es zu wissen?
»Haben Sie ihn geliebt?«
»Für mich ist er nicht tot. Ich begehrte ihn. Aber ich glaube nicht, daß ich ihn geliebt habe.«
»Dann müssen Sie vieles über ihn wissen, was Sie nicht gesagt haben.«
»Was wollen Sie denn wissen? Wie er beim Lieben war, welche Stellungen er bevorzugte, ob er Dinge tun wollte, über die man nicht spricht?«
Louise war gekränkt.
»Von solchen Dingen will ich nichts wissen.«
»Ich werde auch nichts sagen. Aber es war niemand hier und hat nach ihm gefragt.«
»Etwas in Ihrer Stimme hat mich dazu gebracht, Ihnen nicht zu glauben.«
»Sie entscheiden selbst, was Sie glauben oder nicht glauben. Warum sollte ich in dieser Sache lügen?«
»Das frage ich mich auch. Warum?«
»Ich dachte, Sie meinten mich, als Sie fragten, ob er Besuch bekam. Eine sonderbare Umschreibung für etwas, was Sie wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten.« »Ich habe nicht an Sie gedacht. Henrik hat nie etwas von Ihnen geschrieben. Es war reine Vermutung.«
»Lassen Sie uns dieses Gespräch damit beenden, daß wir die Wahrheit sagen. Haben Sie noch mehr Fragen?«
»Hatte Henrik jemals Besuch?«
Was dann geschah, überraschte Louise und sollte ihre Suche nach der Ursache für Henriks Tod grundlegend verändern. Bianca stand rasch auf, öffnete eine Schreibtischschublade und nahm einen Umschlag heraus. »Henrik hat mir dies gegeben, als er das letzte Mal hier war. Er sagte, ich solle es an mich nehmen. Warum, weiß ich nicht.«
»Was ist in dem Umschlag?«
»Er ist zugeklebt. Ich habe ihn nicht geöffnet.«
»Warum zeigen Sie ihn mir erst jetzt?«
»Weil er für mich war. Sie oder Ihren Mann hat Henrik nicht erwähnt, als er ihn mir
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