Kennedys Hirn
Flügeln?«
»Krokodile existieren seit zweihundert Millionen Jahren auf der Erde. Das Krokodil schreckt uns durch sein Wesen und seine Freßgewohnheiten. Aber niemand kann ihm das Recht streitig machen zu existieren, und man kann ihm auch seine phantastische Überlebensfähigkeit nicht absprechen.«
Louise schüttelte den Kopf. »Ich verstehe trotzdem nicht, wie er das meint. Ich würde Holloway gern selbst fragen. Ist er hier?«
»Das weiß ich nicht. Henrik sagte, daß er sich selten zeige. Er sei immer von Dunkel umgeben.«
»Hat Henrik sich so ausgedrückt? Von Dunkel umgeben?«
»Ich erinnere mich deutlich.«
Eine Tür in einem der großen Gebäude wurde geöffnet. Eine weiße Frau in heller Krankenhauskleidung trat heraus und kam auf sie zu. Louise fiel auf, daß sie barfuß war. Sie hatte kurzgeschnittenes Haar und war mager, ihr Gesicht war voller Sommersprossen. Sie schien in Henriks Alter zu sein.
»Herzlich willkommen«, sagte sie in gebrochenem Portugiesisch.
Louise antwortete auf englisch.
Die junge Frau wechselte sogleich die Sprache und stellte sich als Laura vor.
Drei L, dachte Louise. Lucinda und ich und jetzt eine Laura.
»Mein Sohn Henrik Cantor hat hier gearbeitet«, sagte sie. »Erinnern Sie sich an ihn?«
»Ich bin erst vor einem Monat aus den USA gekommen.«
»Er hat gesagt, man dürfe das Dorf besuchen.«
»Jeder ist willkommen. Ich führe Sie herum. Lassen Sie mich zur Warnung nur sagen, daß Aids keine schöne Krankheit ist. Sie tötet nicht nur Menschen und zerstört ihr Äußeres. Sie ruft auch ein Entsetzen hervor, das schwer zu ertragen sein kann.«
Lucinda und Louise blickten sich an.
»Ich ertrage es, Blut und verängstigte Menschen zu sehen«, sagte Lucinda. »Und Sie?«
»Einmal war ich die erste, die bei einem schweren Verkehrsunfall an der Unglücksstelle war. Überall war Blut, einem Mann war die Nase abgerissen worden. Das Blut wallte nur so heraus. Das habe ich ausgehalten. Zumindest habe ich sehr gut vor mir selbst verborgen, wie es mir zusetzte.«
Laura führte sie aus der gleißenden Sonne in die Häuser und Hütten. Louise hatte das Gefühl, in ein kirchenähnliches Dunkel einzutreten, in dem die kleinen Fenster einen seltsamen Eindruck von Mystik hervorriefen. Christian Holloway war ein Mann, der von Dunkel umgeben war. In den Hütten lagen die Kranken auf Pritschen oder direkt auf dem Boden auf Bastmatten. Ein ekelerregender Geruch von Urin und Kot schlug ihnen entgegen. Louise konnte kaum die einzelnen Gesichter erkennen. Was sie erlebte, waren leuchtende Augen, Stöhnen und der Geruch, und all das verschwand einfach, als sie auf dem Weg zum nächsten Haus für einen kurzen Augenblick wieder hinaus in die blendende Sonne traten. Es war ihr, als sänke sie durch die Jahrhunderte und beträte einen Raum voller Sklaven, die auf den Transport warteten. Sie flüsterte
Laura eine Frage zu, und die Pflegerin antwortete, die im Dunkeln verborgenen Menschen seien Sterbende, die nie wieder hinaus an die Sonne gelangen würden, für sie gebe es keine Hilfe mehr, sie befänden sich im letzten Stadium, in dem nur noch Schmerzlinderung möglich sei. Laura war wortkarg, still führte sie sie durch das Dunkel und durch das Leiden. Louise dachte, daß die klassischen Kulturen, nicht zuletzt die der Griechen, deren Gräber sie so häufig freilegte, klare Vorstellungen von Sterben und Tod hatten, von den Warteräumen vor und nach dem Übergang vom Leben zum Tod. J etzt wandere ich mit Vergil und Dante durch das Totenreich.
Die Wanderung schien endlos zu sein. Sie gingen von Haus zu Haus. Überall Stöhnen, Röcheln, flüsternde Stimmen, Wörter, die aus unsichtbaren Kesseln aufbrodelten, verzweifelt, jenseits aller Hoffnung. Es durchfuhr sie wie ein schneidender Schmerz, als sie ein Kind weinen hörte, das war das schlimmste, die unsichtbaren Kinder, die hier lagen und starben.
In der Dunkelheit waren junge weiße Menschen zu erkennen, die sich über die Kranken beugten, mit Wassergläsern, Tabletten, flüsternden, tröstenden Worten. Louise sah ein sehr junges Mädchen mit einem glitzernden Ring in der Nase; es hielt eine abgemagerte Hand in der seinen.
Sie versuchte, sich Henrik in dieser Hölle vorzustellen. Vielleicht erkannte sie ihn dort drinnen. Er konnte wirklich hiergewesen sein, sie zweifelte nicht daran, daß er Kraft genug gehabt hatte, diesen Menschen beizustehen.
Als sie das letzte Haus verlassen hatten und Laura sie mitnahm in einen klimatisierten
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