Kennedys Hirn
erschreckt mich.«
»War nicht alles erschreckend? All die Toten, die da lagen und nur warteten?«
»Ich meine etwas anderes. Etwas, was man weder hört noch sieht, was aber trotzdem da ist. Ich versuchte zu entdecken, was Henrik plötzlich gesehen hatte und was ihm solche Angst einflößte.« Louise sah Lucinda aufmerksam an.
»Bei unseren letzten Begegnungen war er in Todesangst. Das erzähle ich dir erst jetzt. Alle Freude war plötzlich verschwunden. Er wurde blaß von etwas, das tief aus seinem Inneren kam. Er wurde so still. Vorher hatte er immer viel geredet. Manchmal war er so mitteilsam, daß es einem zuviel wurde. Aber jetzt kam dieses Schweigen, wie aus dem Nichts. Das Schweigen und die Blässe, und dann verschwand er spurlos.«
»Er muß etwas gesagt haben. Ihr habt miteinander geschlafen, ihr seid zusammen eingeschlafen und wieder aufgewacht. Hatte er keine Träume? Hat er wirklich nichts erzählt?«
»Er schlief in der letzten Zeit unruhig, wachte schweißgebadet auf, lange vor der Morgendämmerung. Ich fragte ihn, was er geträumt habe. >Vom Dunkel<, erwiderte er. >Von all dem, was verborgen ist.< Wenn ich ihn fragte, was er meinte, antwortete er nicht. Und wenn ich ihm keine Ruhe ließ, schrie er auf und stürzte aus dem Bett. Er kämpfte mit einer Angst, ob er schlief oder wach war.«
»Dunkel und das, was verborgen ist? Hat er nie von Menschen gesprochen?«
»Er hat von sich selbst gesprochen. Er sagte, die schwerste aller Künste sei es, auszuhalten.« »Was hat er damit gemeint?« »Ich weiß es nicht.«
Lucinda wandte das Gesicht ab. Louise dachte, daß sie früher oder später die richtige Frage finden würde, die gestellt werden mußte. Doch im Moment suchte sie noch vergeblich nach dem passenden Schlüssel.
Sie kehrten zum Wagen zurück und setzten die Fahrt fort. Scheinwerfer blendeten in der Dunkelheit. Louise wählte Arons Handynummer. Die Signale verhallten, ohne daß sich jemand meldete.
Ich brauchte dich hier. Du würdest sehen, was ich nicht sehe.
Sie hielten vor Lars Häkanssons Haus. Die Wache vor dem Haus erhob sich.
»Ich war einige Male hier«, sagte Lucinda. »Aber nur, wenn er betrunken war.« »Mit Henrik?«
»Nicht mit Henrik. Lars Häkansson, dem Wohltäter aus Schweden. Nur wenn er betrunken war, konnte es ihm einfallen, mich mit zu sich in sein eigenes Bett zu nehmen. Er schämte sich vor den Wachen, er hatte Angst, daß jemand ihn sähe. Die europäischen Männer laufen zu Huren, aber es darf niemand merken. Damit die Wachen nicht sahen, daß ich im Wagen war, mußte ich unter eine Decke kriechen. Natürlich sahen sie mich trotzdem. Manchmal streckte ich eine Hand unter der Decke hervor und winkte ihnen zu. Aber das Merkwürdigste war, daß die ganze Freundlichkeit, mit der er sich normalerweise schmückte, von ihm abfiel, sobald wir in sein Haus kamen. Er trank weiter, aber nie so viel, daß er keinen Sex mehr haben konnte. So hat er sich immer ausgedrückt, >Sex haben<, ich glaube, es erregte ihn, alle Gefühle zu vermeiden. Das, was geschehen sollte, war etwas Rohes und Klinisches, ein Stück Fleisch, das aufgeschnitten werden sollte. Ich sollte mich nackt ausziehen und dabei so tun, als wüßte ich nicht, daß er da wäre, als wäre er nur ein Spanner. Doch dann begann ein anderes Spiel. Ich mußte ihm die Kleider ausziehen, bis auf seine Unterhose. Dann mußte ich sein Glied in den Mund nehmen, während er noch die Unterhose anhatte. Dann kam er von hinten in mich. Nachher hatte er es eilig. Ich bekam mein Geld, wurde hinausgejagt und brauchte nicht mehr Julieta zu sein. Und es machte ihm auch nichts aus, daß die Wachen mich sahen. «
»Warum erzählst du mir das?«
»Damit du weißt, wer ich bin.«
»Oder wer Lars Häkansson ist?«
Lucinda nickte stumm.
»Ich muß arbeiten. Es ist schon spät.«
Lucinda küßte sie hastig auf die Wange. Louise stieg aus dem Wagen, eine der Wachen öffnete die quietschende Pforte.
Als sie ins Haus trat, wartete Lars Häkansson auf sie. »Ich habe mir Sorgen gemacht, weil Sie nicht gekommen sind und auch keine Nachricht hinterlassen haben.« »Daran hätte ich denken sollen.«
»Haben Sie gegessen? Ich habe etwas vom Abendessen aufgehoben.«
Sie ging mit ihm in die Küche. Er servierte ihr das Essen und schenkte ihr ein Glas Wein ein. Lucindas Erzählung hallte unwirklich in ihrem Kopf nach.
»Ich habe Christian Holloways Dorf für die Kranken in der Nähe einer Stadt besucht, deren Namen ich nicht aussprechen
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