Kennen Wir Uns Nicht?
uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu bekommen. »Hör mir zu, Mum! Du kannst nicht in einer Seifenblase leben und so tun, als wäre nichts gewesen.«
»Lexi!«, sagt Mum scharf, aber ich ignoriere sie.
»Amy hat gehört, dass Dad im Gefängnis war. Sie findet die Vorstellung cool. Kein Wunder, dass sie dauernd Ärger hat... Meine Güte!« Plötzlich fugt sich das Puzzle meines Lebens wie von selbst zusammen. »Deshalb bin ich plötzlich so ehrgeizig geworden. Deshalb hatte ich plötzlich nichts anderes mehr im Sinn. Die Beerdigung hat alles verändert.«
»Du hast mir erzählt, was passiert war«, sagt Jon. »Als der Gerichtsvollzieher kam, ist sie zusammengebrochen.« Er wirft Mum einen verächtlichen Blick zu. »Du musstest die Leute aufhalten, Lexi. Du musstest Entscheidungen treffen ... du hast alles auf dich genommen.«
»Hört auf, mich anzusehen, als wäre es nur meine Schuld!«, schreit Mum plötzlich mit schriller, bebender Stimme. »Hört auf, mir die ganze Schuld zuzuschieben! Ihr habt doch keine Ahnung von meinem Leben, überhaupt keine! Dein Vater, dieser Mann ...«
Sie lässt die Worte in der Luft hängen, und mir stockt der Atem, als sie mich mit ihren blauen Augen ansieht. Zum ersten Mal -seit ich denken kann - klingt meine Mutter ... aufrichtig.
Es ist ganz still. Ich traue mich kaum, etwas zu sagen.
»Was ist mit Dad?« Mein Flüstern scheint mir immer noch zu laut. »Mum ... sag es mir!«
Aber es ist zu spät. Schon ist der Augenblick vergangen. Mums Blick schweift ab, weicht mir aus. Plötzlich ist es, als sähe ich sie zum allerersten Mal - ihr Haar so mädchenhaft mit diesem Haarreif, die Hände faltig, Dads Ring noch auf dem Finger. Während ich sie betrachte, tastet sie nach einem Hundekopf und tätschelt ihn.
»Es ist schon fast Mittag, Agnes!« Ihre Stimme klingt hell und brüchig. »Sehen wir mal nach, was wir für dich finden können ...«
»Mum, bitte.« Ich trete einen Schritt vor. »Du kannst jetzt doch nicht aufhören. Was wolltest du denn sagen?«
Ich weiß nicht genau, was ich mir erhofft habe, doch als sie aufblickt, wird mir klar, dass ich es nicht bekommen werde. Ihre Miene ist wieder undurchdringlich, als wäre nichts passiert.
»Ich wollte nur sagen ...«, schon findet sie wieder zu ihrer alten Märtyrerhaltung, »... bevor du mir die Schuld für alles in deinem Leben gibst, Lexi: Dieser Bursche hatte einiges auf dem Gewissen. Dieser Freund von dir, der auf der Beerdigung war. Dave? David? Dem solltest du Vorwürfe machen.«
»Loser Dave?« Sprachlos starre ich sie an. »Aber ... Loser Dave war nicht auf der Beerdigung. Er hat mir erzählt, er hätte angeboten, mitzukommen, aber ich hätte es abgelehnt. Er sagte ...« Meine Worte versiegen, als ich Jon sehe, der nur den Kopf schüttelt und gen Himmel blickt.
»Was hat er dir noch erzählt?«
»Er hat gesagt, dass wir uns an diesem Morgen getrennt haben. Dass alles wunderschön war und er mir eine Rose geschenkt hat...« Oh, Gott. Welcher Teufel hat mich geritten, ihm auch nur ein Wort zu glauben? »Entschuldigt mich.«
Ich marschiere hinaus in die Auffahrt, getrieben vom Frust über Mum, über Dad, über mich selbst, weil ich so leichtgläubig bin. Ich reiße mein Handy aus der Tasche und gebe Loser Daves Büronummer ein.
»Auto Repair Workshop«, höre ich seine geschäftsmäßige Stimme. »Dave Lewis am Apparat.«
»Loser Dave, ich bin‘s«, sage ich kalt. »Lexi. Ich muss mit dir noch mal über unsere Trennung sprechen. Und diesmal muss ich die Wahrheit wissen.«
»Baby, ich habe dir die Wahrheit gesagt.« Er klingt ungeheuer selbstbewusst. »Da wirst du mir schon glauben müssen.«
Am liebsten würde ich ihm eine reinhauen.
»Hör zu, du Arschgesicht«, sage ich ganz langsam und böse. »Ich bin hier gerade in einer neurologischen Spezialpraxis, okay? Die sagen, irgendjemand hat mich falsch informiert, was jetzt meine Nervenbahnen blockiert. Und wenn das nicht korrigiert wird, werde ich einen bleibenden Hirnschaden davontragen.«
»Ach, du Schande.« Er klingt erschüttert. »Sofort?«
Er ist wirklich noch blöder als Mums Whippets.
»Ja. Der Spezialist ist gerade bei mir und versucht, meinen Datenspeicher zu korrigieren. Wenn du es also vielleicht noch mal mit der Wahrheit versuchen könntest... Oder möchtest du lieber gleich mit dem Arzt sprechen?«
»Nein! Okay!« Er ist fix und fertig. Ich kann mir richtig vorstellen, wie er immer schneller atmet und mit dem Finger innen am Kragen entlangfährt.
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