Kennen Wir Uns Nicht?
Aktenordner auf meinem Schoß fest, als würde er mir sonst wegfliegen. Draußen rasen die Felder vorbei. Jon sieht gelegentlich zu mir herüber, ohne etwas zu sagen.
Immer wieder lasse ich mir alles durch den Kopf gehen. Es kommt mir vor, als hätte ich innerhalb einer halben Stunde mein Examen zu »Lexi Smart« abgelegt.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass mein Dad uns solche Probleme hinterlassen hat«, sage ich schließlich. »Ohne die leiseste Vorwarnung.«
»Ach, nein?« Jon klingt zurückhaltend.
Ich streife meine Schuhe ab, ziehe die Knie an und stütze mein Kinn darauf, mit stierem Blick nach vorn. »Weißt du, alle mochten meinen Dad. Er sah gut aus, war lustig und geistreich, und er hat uns geliebt. Obwohl er ein paar Mal Mist gebaut hat ... er hat uns wirklich geliebt. >Seine drei Mädels< hat er uns immer genannt.«
»Seine drei Mädels.« Jons Stimme klingt rauer denn je. »Eine hundeverrückte Heuchlerin, eine minderjährige Betrügerin und eine überspannte Amnesie-Kranke. Allesamt schwer verschuldet. Gute Arbeit, Michael. Sehr schön.«
Ich starre ihn an. »Du hältst nicht viel von meinem Dad, was?«
»Ich glaube, er hat es sich leichtgemacht und euch die Scherben hinterlassen«, sagt Jon. »Ich glaube, er war ein selbstsüchtiger Sack. Aber, hey, ich habe ihn nie kennengelernt.« Abrupt setzt er den Blinker und wechselt auf eine andere Spur. Plötzlich fällt mir auf, wie fest er das Lenkrad hält. Fast als wäre er wütend.
»Jedenfalls verstehe ich mich jetzt etwas besser.« Ich kaue an meinem Daumennagel herum. »Habe ich dir je davon erzählt? Von der Beerdigung?«
»Hin und wieder.« Jon sieht mich mit schiefem Lächeln an.
»Ach, so.« Ich werde rot. »Also ununterbrochen. Bestimmt habe ich dich damit zu Tode gelangweilt.«
»Jetzt hab dich nicht so!« Er nimmt meine Hand und drückt sie kurz. »Eines Tages, ganz am Anfang, als wir nur befreundet waren, kam alles raus. Die ganze Geschichte. Wie dieser Tag dein Leben verändert hat. Dass du die Schulden deiner Familie übernehmen musstest. Gleich am nächsten Tag hast du beim Zahnarzt angerufen, eine Diät angefangen und beschlossen, dich von Grund auf zu verändern. Dann warst du im Fernsehen, und alles wurde noch extremer. Du bist im Eiltempo die Karriereleiter rauf, hast Eric kennengelernt, und er schien genau der Richtige zu sein. Er war zuverlässig, reich, berechenbar. Meilenweit entfernt von ...« Er stockt.
»Meinem Dad«, sage ich schließlich.
»Ich bin kein Psychologe. Aber das würde ich mal vermuten.«
Wir schweigen. Ich beobachte ein kleines Flugzeug, das immer höher in den Himmel steigt und zwei weiße Kondensstreifen hinter sich zurücklässt.
»Weißt du, als ich im Krankenhaus zu mir kam, dachte ich, ich lebe in einem Traum«, sage ich langsam. »Ich dachte, es ist wie bei Aschenputtel. Besser als bei Aschenputtel. Ich dachte, ich müsste der glücklichste Mensch auf der Welt sein ...« Ich schweige, als ich sehe, dass Jon den Kopf schüttelt.
»Du standst ständig unter Druck. Du bist zu früh zu weit gekommen und wusstest nicht, wie du damit umgehen solltest. Du hast Fehler gemacht ...« Er zögert. »Deine Freundinnen wollten nichts mehr mit dir zu tun haben. Das war für dich das Schlimmste.«
»Aber ich begreife es nicht«, sage ich hilflos. »Ich begreife nicht, wieso ich eine Bitch geworden bin.«
»Es war doch keine Absicht, Lexi! Geh nicht so hart mit dir ins Gericht. Diesen Chefposten hat man dir aufgedrängt. Du musstest eine große Abteilung übernehmen, du wolltest die Geschäftsleitung beeindrucken und dir nicht den Vorwurf der Vetternwirtschaft machen lassen ... du hast dich echt abgestrampelt. Aber du bist auch ein paar Sachen falsch angegangen. Deshalb kamst du dir vor, als würdest du in einer Falle sitzen. Du hattest dir diese harte Schale zugelegt. Sie hat viel zu deinem Erfolg beigetragen.«
»Die Kobra«, sage ich und verziehe das Gesicht. Ich kann immer noch nicht fassen, dass man mich so genannt hat.
»Die Kobra.« Er nickt, und wieder zuckt ein Lächeln in seinen Mundwinkeln. »Die Idee kam von den Fernsehleuten. Es lag nicht an dir. Obwohl es in gewisser Weise stimmte. Du bist ziemlich kobramäßig, wenn es ums Geschäft geht.«
»Nein, bin ich nicht!« Entsetzt blicke ich auf.
»Im positiven Sinn.« Er grinst.
Im positiven Sinn? Wie kann man im positiven Sinn eine Kobra sein?
Eine Weile fahren wir, ohne etwas zu sagen. Zu beiden Seiten erstrecken sich goldene Felder bis
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