Kennen Wir Uns Nicht?
Auge, den ich nicht kenne. Ich trete näher heran, um mir das Foto anzusehen, und spüre, wie es mich durchzuckt. Es ist ein Foto von mir. Und Jon. Wir sitzen auf einem Baumstumpf und halten uns im Arm, und ich trage eine alte Jeans und Turnschuhe. Ich habe den Kopf zurückgeworfen und lache, als wäre ich das glücklichste Mädchen auf der ganzen Welt.
Es stimmt also. Es stimmt tatsächlich.
Meine Kopfhaut kribbelt, als ich unsere Gesichter sehe, hell im Sonnenschein. Die ganze Zeit hatte er den Beweis.
»Du hättest es mir zeigen können«, sage ich fast vorwurfsvoll. »Dieses Foto. Du hättest es mitbringen können, als wir uns das erste Mal gesehen haben.«
»Hättest du mir geglaubt?« Er setzt sich auf eine Sofalehne. »Hättest du mir glauben wollen?«
Ich weiß nicht weiter. Vielleicht hat er recht. Vielleicht hätte ich Erklärungen gesucht, alles relativiert, mich an meinen perfekten Ehemann geklammert - mein traumhaftes Leben.
Um die Stimmung etwas aufzuhellen, trete ich an einen Tisch, auf dem alte Romane liegen, die mir gehören. Daneben steht eine Schale mit Kernen.
»Sonnenblumenkerne.« Ich nehme mir eine Handvoll. »Ich liebe Sonnenblumenkerne.«
»Das weiß ich doch.« Jon macht so ein seltsames Gesicht.
»Was?« Überrascht sehe ich ihn an, die Kerne schon halb im Mund. »Was ist? Sind die okay?«
»Die sind in Ordnung. Da war nur was ...« Er lächelt in sich hinein. »Nein, egal. Vergiss es.«
»Was?« Fragend sehe ich ihn an. »Hat das was mit uns zu tun? Du musst es mir erzählen. Los!«
»Nichts weiter.« Er zuckt mit den Achseln. »Es war kindisch. Wir hatten so ein ... Ritual. Nachdem wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten, hast du Sonnenblumenkerne geknabbert. Einen davon hast du in einen Joghurtbecher gepflanzt, und ich habe ihn mit nach Hause genommen. Zum Andenken. Von da an haben wir es dann jedes Mal gemacht. Wir nannten sie >unsere Kinder<.«
»Wir haben Sonnenblumenkerne eingepflanzt?« Neugierig starre ich ihn an. Irgendwo in meinem Hinterkopf klingelt es ganz leise.
»Mh-hm.« Jon nickt, als wollte er das Thema wechseln. »Ich hol dir was zu trinken.«
»Und wo sind sie?«, sage ich, als er zwei Gläser Wein einschenkt. »Hast du welche davon aufbewahrt?« Ich sehe mich im Zimmer nach bepflanzten Joghurtbechern um.
»Ist egal.« Er reicht mir ein Glas.
»Hast du sie weggeworfen?«
»Nein, ich habe sie nicht weggeworfen.« Er geht zu einem CD-Player und legt etwas leise Musik auf, aber ich lasse mich nicht ablenken.
»Und wo sind sie dann?« Meine Stimme bekommt etwas Herausforderndes. »Wenn es stimmt, was du sagst, haben wir doch mehr als nur einmal Sex gehabt. Also müsste es auch ein paar Sonnenblumen geben.«
Jon nimmt einen Schluck Wein. Dann dreht er - ohne ein Wort zu sagen - auf dem Absatz um und winkt mir, ihm in einen kleinen Flur zu folgen. Wir kommen durch ein spärlich eingerichtetes Schlafzimmer. Dort stößt er die Tür zu einem hübschen, breiten Balkon auf. Mir bleibt die Luft weg.
Alles ist voller Sonnenblumen! Von großen, gelben Monstern, die in den Himmel reichen, über junge Pflänzchen, die noch gestützt werden müssen, bis hin zu Schösslingen, die in ihren Bechern gerade aufgehen wollen Sonnenblumen, so weit das Auge reicht.
Das war es also. Das waren wir. Von den allerersten Anfängen bis zum jüngsten, struppigen Keim im Topf. Plötzlich schnürt es mir die Kehle zu, als ich mich in diesem Meer aus Grün und Gelb umsehe. Ich hatte ja keine Ahnung.
»Und wie lange ist es her ... ich meine ...« Ich deute auf den kleinsten Setzling, der in einem winzigen, handbemalten Topf von Zahnstochern aufrecht gehalten wird. »Seit wir das letzte Mal...«
»Sechs Wochen. Am Tag vor deinem Unfall.« Mit undurchschaubarer Miene sieht Jon mich an. »Den Kleinen pflege ich besonders gut.«
»Dann haben wir uns zum letzten Mal gesehen, kurz bevor ...« Ich beiße mir auf die Lippe.
Einen Moment herrscht Schweigen, dann nickt Jon. »Da waren wir das letzte Mal zusammen.«
Ich setze mich und trinke meinen Wein, fassungslos. Da steht die ganze Geschichte. Eine astreine Affäre. Wächst und gedeiht und wird so stark, dass ich Eric dafür verlassen wollte.
»Was ist mit... dem ersten Mal?«, sage ich schließlich. »Wie hat alles angefangen?«
»Es passierte an dem Wochenende, als Eric weg war. Ich war drüben bei euch, und wir haben geredet. Wir saßen draußen auf der Dachterrasse und haben Wein getrunken. Ungefähr so wie jetzt.« Jon
Weitere Kostenlose Bücher