Kerstin Gier 2
Terrasse. So viel kann ich durch das geschmackvoll gestaltete Grünzeug, das eine Art natürlichen Zaun zur Appartementanlage bildet, erkennen. Sie sitzen dort allein und trinken Orangensaft. Wo sind die Kinder? Vielleicht haben sie sie drinnen angekettet. Soll es ja alles geben. Gut, Gerda. Das war’s. Jetzt geh! Schnell! Ich stehe gerade auf, da kommt eine weitere Frau aus dem Appartement. Oder ist das ein Kind? Jedenfalls ist sie klein und ziemlich dick, mit braunen kurzen Haaren, in Shorts und unförmigem T-Shirt. Das dicke Mädchen sagt irgendwas. Ist das vielleicht das Geheimnis dieser Familie? Ein erwachsenes Kind, das aus der Art geschlagen ist und deswegen vor der Öffentlichkeit versteckt wird? Ohne zu merken, was ich tue, schlendere ich den kleinen Schotterweg entlang, der zu dem Weg führt, der parallel an den Terrassen der Appartementreihe vorbeiläuft. Appartement zehn liegt geradeaus zur linken Hand. Ich versuche so unauffällig wie möglich die Familie zu beobachten. Yvonne Hirsch diskutiert mit dem dicken Mädchen, Herr Hirsch studiert scheinbar versunken die Zeitung, dann guckt er plötzlich auf. Schnell biege ich nach rechts ab. Einen Gesprächsfetzen habe ich mitbekommen, in dem es ums Anziehen ging, dann bin ich außer Hörweite. Und sehen kann ich Familie Vielleicht-doch-nicht-ganz-so-Perfekt auch nicht mehr. Mist. Alles, was ich erkennen konnte, war, dass das Mädchen älter ist als auf die Entfernung vermutet und sich offensichtlich gegen die Mutter auflehnt. Mmmhh. Ich schlendere weiter und sehe, dass der Weg dreißig Meter weiter endet. Das ist ein Zeichen. Ich sollte umdrehen und mich aus dem Staub machen und diese merkwürdige Familie ihr Ding machen lassen. Doch auf dem Rückweg höre ich plötzlich Geschrei von Appartement zehn. »Mama, du Fotze!«
Hoppla, denke ich, sieh mal einer an. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. »Scheißkuh« ist ja wohl nichts dagegen! Ich bleibe stehen, um noch mehr wohltuendes Skandalgezanke aus der heilen Welt zu hören, doch der Geräuschpegel ist wieder gesunken. Ich muss näher ran. In diesem Moment entdecke ich auf der verlassenen Terrasse von Nummer zwölf einen Schiebewagen mit Besen, Müllsack und Putzutensilien, wie ihn die Reinigungskräfte benutzen. Die dazugehörige Putzfrau ist weit und breit nicht zu sehen. Da kann ich mir den Wagen ja wohl mal eben ausborgen. Ich schiebe ihn auf die Terrasse von Nummer elf, die nur durch einen dünnen Zaun vom Urlaubsdomizil der Hirschs getrennt ist. Um die Tarnung perfekt zu machen, nehme ich mir einen Besen und tue so, als ob ich fege. »Alessandra«, zischt Yvonne Hirsch, »geh augenblicklich rein, sonst vergesse ich mich.« Die Tür wird geknallt. Alessandra ist offensichtlich der Aufforderung nachgekommen. »Sag ihr, dass ich es nicht dulde, wenn sie sich so aufführt«, sagt Yvonne Hirsch.
»Aber sie nicht will rosa Kleid anziehen«, klagt das dicke Mädchen in osteuropäischem Akzent. Okay. Damit ist die Blutsverwandtschaft wohl ausgeschlossen.
»Dann sag ihr, dass sie es anziehen muss «, näselt Yvonne Hirsch. »Das wird selbst dich wohl nicht überfordern, oder? Und wenn sie es nicht tut, dann weiß sie ja, was passiert.«
Was passiert denn dann? Was?
»Ist gut.« Das Mädchen verschwindet wieder im Appartement. In dem Moment, in dem sie die Tür aufmacht, schallt ein Höllenlärm aus dem Inneren. Aha, denke ich befriedigt. Die lieben Kleinen machen also zu Hause die Molli, und Mutter Perfekt interessiert es einen Dreck, weil sie ein Kindermädchen dabei hat. Ganz schön clever.
»Yvonne, lass doch mal locker«, sagt Herr Hirsch mit angenehm dunkler Stimme. »Wir sind im Urlaub, in Gottes Namen.«
»Ja, Egon. Aber du weißt doch genau: Wenn ich einmal die Zügel schleifen lasse, dann ist alles verloren.«
» Was ist dann verloren?«, fragt Egon.
»Na, die Familienidylle.«
Egon schnaubt. »Los, dann lass uns aufbrechen und ein bisschen Familienidylle verbreiten.« Tassengeklirre. Stühle rücken. Terrassentür aufmachen, Lärm, Tür zu, Ruhe. Zwei Minuten später geht die Tür wieder auf. »Alessandra, ich warne dich«, vernehme ich die fauchende Stimme von Yvonne Hirsch. »Wenn du dich nicht benimmst, mache ich auch deinen neuen MP 3-Player kaputt. Das gilt auch für euch, Marlon und Victoria. Euer Lieblingsspielzeug landet in der Tonne! Verstanden?« Dann, sanfter: »Wenn ihr aber brav seid, dann dürft ihr euch nachher was Tolles aussuchen.«
»Ich will den Gameboy«, schreit
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