Kerstin Gier 2
schießt es mir durch den Kopf, als der Junge laut und vernehmlich sagt »Mann, ey, ich hab keinen Bock mehr. Ich geh jetzt nach Hause You-Porn gucken!«
You-Porn? Habe ich da eben richtig gehört?
Mamas Gesichtsfarbe mutiert binnen Sekunden von zartrosa zu flammend rot, und sie entscheidet sich blitzschnell. Das Rennen macht der Biowein. Bloß weg hier, die jugendliche Brut davon abhalten, sich kostenlose Pornos für den nächsten Schultag aufs Handy zu laden.
»Hallo Sonja, ich bin’s noch mal, Violetta. Was ich noch fragen wollte: Sollen die Bücher für Jungs sein oder für Mädchen? Ruf mich doch schnell zurück bitte!«, spreche ich auf Sonjas Mailbox, während ich ein paar Straßen weiter zu meinem Lieblings-Thai-Imbiss gehe, um Essens-Grundlage für den Champagner zu holen.
Neben dem Imbiss befindet sich eine Döner-Bude, die ich normalerweise links liegen lasse, weil ich erstens kein Fleisch esse und zweitens den Gestank nicht ertrage.
Heute bleibe ich jedoch stehen, weil sich direkt im Eingang ein Pärchen so heftig küsst, dass mir bei diesem Anblick ganz anders wird.
Als sich das Mädchen umdreht, bleibt mir beinahe das Herz stehen: Die ist doch gerade einmal … also, elf, zwölf. Oder doch eher zehn? Eine dicke Make-up-Schicht bedeckt ihr eigentlich hübsches Gesicht und macht es schwer, ihr richtiges Alter zu erkennen. Verwirrt betrete ich den Thai und stammle krudes Zeug vor mich hin. Gut, dass man mich dort kennt, und weiß, was ich immer nehme.
Benommen gehe ich nach Hause.
Die Kinder von heute sind scheinbar auch nicht mehr das, was sie einmal waren.
Daheim hat Sonja auf den Anrufbeantworter gesprochen: »Die Bücher sind für Mädchen gedacht. Es gibt ja leider nur wenige Jungs in dem Alter, die gern lesen. Die haben einfach andere Hobbys. Ändert sich später auch nicht besonders, aber das weißt du ja selbst. Also mach’s gut und lass mich bald wissen, wie du dich entschieden hast.«
»Wofür hast du dich interessiert, als du zehn warst?«, überfalle ich Jo, die zwar mit einer halben Stunde Verspätung auftaucht (die Kinder, die Kinder!), aber besser so als gar nicht.
»Kann ich erst einmal hereinkommen und mich setzen?«
»Äh ja, ’tschuldigung. Magst du?« Ich schwenke den Crémant-Rosé vor ihrer Nase. »Ich hab schon angefangen, schmeckt super!«
»Ich rieche es!«, antwortet Jo und wedelt in der Luft herum. »Also, schieß los: Was ist passiert? Und warum willst du wissen, was ich als Zehnjährige mochte? Bekommst du Besuch von einer Nichte, deren Existenz du mir bislang verheimlicht hast?«
»Ich soll ein Kinderbuch schreiben. Oder genauer gesagt, gleich drei davon«, verkünde ich und warte auf ihre Reaktion.
Anstatt vom Sofa zu springen und mir vor Freude um den Hals zu fallen, klappt Jos Mund erst auf – und dann wieder zu.
Dann wieder auf – und wieder zu.
»Du sollst ein bitte was? Ich dachte erst, du hättest KINDERBUCH gesagt, aber da habe ich wohl was falsch verstanden.«
Jetzt bin ich doch ein bisschen beleidigt.
Traut Jo mir das etwa nicht zu?
»Doch, du hast ganz richtig gehört. Ich habe heute ein sensationelles Angebot bekommen. Die haben dort anscheinend mehr Vertrauen in meine Autoren-Qualität als meine eigene Freundin.«
Jo stürzt den Crémant in einem Zug hinunter.
»Und … und worum soll es da gehen … ich meine, hast du irgendwelche Vorgaben, oder sollst du deinen eigenen Fantasien freien Lauf lassen?«, kommt es zögerlich.
»Alles, was ich weiß, ist, dass Engel drin vorkommen sollen. Weil Engel die neuen Vampire sind!«
Himmel hilf, lalle ich etwa? Vielleicht hätte ich das Soi Sam vom Thai doch essen sollen, anstatt es einfach in den Kühlschrank zu stellen. Und das alles nur, weil ich das Bild dieses wild knutschenden Pärchens nicht mehr aus dem Kopf bekommen hatte, das so aussah, als sei es gerade erst eingeschult worden.
»Im Übrigen habe ich morgen ein Date mit einem echt heißen Jogger«, verkünde ich, um vom leidigen Kinderbuchthema abzulenken. Irgendwie hatte ich mir Jos Reaktion nämlich anders vorgestellt.
Das Ablenkungsmanöver wirkt, denn Jo liebt meine Männergeschichten. Ihre Ehe läuft so routiniert, dass sie alles, was sie selbst nicht haben kann, durch mich erlebt.
Für sie bin ich so etwas wie Kino, Twitter und die Gala in einer Person.
»Wo hast du den denn schon wieder aufgerissen?«, fragt sie und lehnt sich erwartungsvoll nach vorn.
Ich fasse meine denkwürdige Mittagspause zusammen, und lasse dabei auch
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