Kerstin Gier 2
ab zehn sein.«
Ich denke nach. Wann habe ich begonnen, selbständig ein Buch zu lesen? Ganz bestimmt nicht mit zehn, eher mit achtzehn, neunzehn. Ich war lange Zeit der absolute Kassetten-Typ. Ich ließ eben lieber lesen.
»Violetta, bist du noch da? Wollen wir lieber morgen darüber reden?« Nein, ich kann morgen nicht. Da habe ich nämlich schon eine Verabredung zum Kaffee.
Irgendwann muss ja auch ICH mal Spaß haben.
»Nee, nee, das können wir genauso gut jetzt am Telefon klären. Also, worum soll es in diesem Buch gehen? Und ich warne dich: Wenn du jetzt etwas von Vampiren, Werwölfen, Hexen oder Feen sagst, lege ich auf. Und zwar sofort!«
»Nein, nein, keine Sorge«, lacht Sonja. »Nichts dergleichen. Aber der Verlag würde sich freuen, wenn du es irgendwie schaffen könntest, einen Engel unterzubringen. Engel sind die neuen Vampire!«
Engel sind die neuen Vampire?! Das wird ja immer besser!
»Also darüber würde ich gern noch einmal in Ruhe nachdenken.«
»Mach das, aber überleg nicht zu lange. Die bieten dir nämlich einen Dreibuch-Vertrag an und zahlen sensationell. Und denk dran: So ein Kinderbuch hat auch keine dreihundert Seiten …«
Das war das Zauberwort.
Ich hadere nämlich schon seit einer Weile mit der Textlänge, die Unterhaltungsromane üblicherweise haben müssen. Ich persönlich stehe ja auf dem Standpunkt, dass jede Geschichte erzählt ist, wenn sie erzählt ist. Punkt!
Verlage und Lektoren sehen das dummerweise anders.
»Wie viele Seiten?«, presse ich atemlos hervor.
»Fünfzig!«
»Fünfzig?«
»Fünfzig!«
»Und wie viel wollen die dafür zahlen?«
Nachdem Sonja eine beeindruckende Garantiesumme und ansehnliche Tantiemen genannt hat, beginnt mein Widerstand zu bröckeln. Außerdem hat mir bislang noch nie jemand einen Drei-Buch-Vertrag angeboten, was aber unter anderem daran liegen mag, dass ich das immer von vornherein ausgeschlossen hatte.
Ich lege mich nun einmal nicht besonders gern fest.
Das ist auch der Grund dafür, weshalb ich glücklicher Single bin und mir nicht wirklich vorstellen konnte, einmal Mutter zu werden.
Deswegen ziehe ich im Übrigen auch gern um, sehr zum Ärger meiner Freunde, die sich ständig neue Adressen notieren müssen.
»Sag den Corona-Leuten, ich denk drüber nach«, antworte ich, lege auf und lasse mich aufs Sofa fallen.
Vielleicht sollte ich, anstatt mich mit dem neuen Exposé herumzuquälen, den einfacheren Weg wählen und meine Unterschrift unter dieses großzügige Angebot setzen.
Ich meine, wie schwer kann es sein, fünfzig Seiten für Kinder ab zehn zu schreiben? Deren Horizont ist zu diesem Zeitpunkt doch mehr als überschaubar. Irgendwas mit Tieren und einem Bauernhof, ein kleines Geheimnis … das sollte doch zu schaffen sein, ich bin schließlich Autorin.
Einen Engel quetsche ich auch noch dazwischen, wenn’s denn sein muss. Und wenn ich die Protagonistin Angel nenne.
Meine Laune hebt sich merklich.
Was für ein genialer Tag!
Erst lerne ich diesen sympathischen Jogger kennen, ohne etwas dafür tun zu müssen, und dann bekomme ich auch noch die Lösung meiner beruflichen Krise auf dem Silbertablett serviert.
»Jo, wir müssen feiern. Hast du heute Abend Zeit?«, frage ich in den Telefonhörer und drücke die Daumen, dass es klappt.
Meine Freundin Johanna, genannt Jo, muss sich erst einmal vergewissern, dass ihr Mann Joachim, dummerweise ebenfalls Jo genannt, heute Abend rechtzeitig nach Hause kommt, um auf Baby Josi (Kurzform von Josephine) und den dreijährigen Joris (friesische Form von Georg) aufzupassen.
»Klär das und ruf mich dann wieder an, okay? Ich besorge in der Zwischenzeit Champagner.«
Ohne Jos Antwort abzuwarten, entere ich den nächstgelegenen Weinladen, denn heute Abend will ich es mir gut gehen lassen, mit oder ohne sie.
Während ich mich nur sehr schwer zwischen einem Crémant-Rosé und dem klassischen Veuve Cliequot entscheiden kann, bekommt ein etwa zehnjähriger Junge direkt neben mir einen Trotz-anfall. Mama braucht für seinen Geschmack viel zu lange, um sich zwischen einem zertifizierten Biowein (»Aber ist der denn auch wirklich gut, oder nur Öko?«) oder dem Weißwein einer kleinen österreichischen Kellerei zu entscheiden. Der Weinverkäufer gibt sein Bestes, während der Sohnemann voller Unmut mit seinen Converse-Chucks gegen eine Holzkiste donnert und mit den Händen auf der Ladentheke herumtrommelt.
So also sieht meine zukünftige Zielgruppe aus, zumindest die männliche! ,
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