Kerstin Gier 2
ich brauche deine Hilfe, und zwar ganz dringend«, tönt es flehentlich durch den Raum. Es ist Jo, die auf den AB spricht und klingt, als seien das Finanzamt und die Mafia gleichzeitig hinter ihr her. In Wahrheit ist es aber ihre Mutter, die einen Schwächeanfall erlitten hat, und ins Krankenhaus muss, wohin sie Baby Josi und Joris natürlich nicht mitnehmen kann. Jo (also der Vater) hat eine wichtige Präsentation und kann daher nicht einspringen, die Nachbarin ist verreist, und das neue Au-pair kommt erst in drei Wochen. »Bitte Violetta, komm vorbei, ich brauch dich. Ich habe schon jeden gefragt, den ich kenne, aber keiner hat Zeit. Und nimm endlich ab! Oder bist du bei deinem Jogger?«
»Nein, bin ich nicht«, antworte ich stöhnend. Bislang hatte Jo mich noch nie gebeten, auf ihre Kinder aufzupassen. Scheint also wirklich dringend zu sein. »Bin in einer guten halben Stunden da«, verspreche ich und überlege, wie viel Promille ein Glas Prosecco hat und ob ich damit noch fahrtüchtig bin. Dummerweise wohnt Jo nämlich in einem Kaff am Stadtrand, weil es da für die Kinder so schön grün ist.
»Was muss ich tun?«, frage ich, als Jo mir mit wirrem Haar und hektischen roten Flecken am Hals öffnet, die Jeans übersät mit grünen Flecken. Vermutlich Spinat.
»Ich habe Josi gerade frisch gewickelt und ihr die Flasche gegeben. In zwei Stunden bekommt sie sicher wieder Hunger, und dann kannst du sie damit«, sie zeigt auf eine Kollektion Bio-Hipp-Gläschen, die darauf wartet, erwärmt und verfüttert zu werden, »bei Laune halten. Momentan liegt sie in ihrem Bettchen und schläft.«
Und ich für meinen Teil hoffe, dass das auch so bleibt, bis Jo wiederkommt.
»Und wie beschäftige ich Joris?«, frage ich, während der kleine Kerl auf dem Boden herumkrabbelt und alle Schubladen öffnet. Ist man mit drei nicht schon zu alt dafür?
»Spiel einfach irgendwas mit ihm«, sagt Jo mit letzter Kraft und bugsiert mich ins Kinderzimmer. Dort liegt genug Zeug herum, um einen Spielzeug-Megastore aufzumachen. »Wenn etwas ist, rufst du mich auf dem Handy an. Ich melde mich, sobald ich weiß, wann ich wieder da bin.«
Ehe ich noch etwas sagen kann, ist Jo auch schon verschwunden.
Joris sieht mich erwartungsvoll an.
Mal sehen, womit könnten wir beginnen?
Die Bauklötze da hinten sehen ganz hübsch aus.
Sind sie im Prinzip auch, bis Joris beschließt, sie gegen die Wand zu pfeffern, wo sie unschöne Spuren hinterlassen. Damit Jo nach ihrer Rückkehr nicht gleich renovieren muss, versuche ich es mit einem Puzzle, mit gigantisch großen Teilen. Man kann aus vier von ihnen einen Hasen machen, super, so macht Puzzeln Spaß!
Joris knabbert an einem herum, bis es fast komplett durchweicht ist, und schmeißt den Rest zu den Bauklötzen.
Bin ich froh, dass wenigstens Josi schläft!
»Hast du Lust, ein Bild zu malen?«, frage ich schmeichelnd, weil ich auf dem Kindertisch einen Block und Wachsmalstifte entdecke.
Joris nimmt zunächst mit ernster Miene auf seinem Stühlchen Platz, kritzelt ein paar rote und grüne Striche aufs Papier, zerknüllt den Rest, indem er sich halb auf den Block legt, und beschließt dann »Was anderes« machen zu wollen.
Er erinnert mich ein wenig an mich selbst und meine latente Unentschlossenheit. Irgendwie ganz niedlich.
Doch bald ebbt mein Verständnis ab, und ich finde Joris einfach nur anstrengend.
Nachdem er eine Weile auf meinem Rücken durchs Zimmer geritten ist, ich ihm Anschwung auf der Schaukel gegeben habe, die an einem schweren Dachbalken befestigt ist, und er ein paarmal lustlos auf dem Zimmertrampolin auf- und abgehopst ist, verfalle ich auf eine andere Idee: »Möchtest du, dass ich dir etwas vorlese?«
Ich bin begeistert von meiner Eingebung.
Auf diese Weise könnte ich mich schon mal mit dem Thema Kinderbuch vertraut machen, wenngleich natürlich für eine völlig andere Altersgruppe. Joris strahlt und führt mich zu seinem Bücherregal. Dort steht alles, was Bibliothekars- und Pädagogenherzen höherschlagen lässt. Er hat die Qual der Wahl, und ich muss gähnen. Als wir uns nebeneinander kuscheln und tief in den Daunen mit Drachen-Bettwäsche versinken, überfällt mich totale Müdigkeit. Ich könnte eine Kassette einlegen, und wir beide könnten ein kleines Nickerchen machen. Josi schläft schließlich auch.
»Buäääääääääääääh!«, ertönt es prompt in ohrenbetäubender Lautstärke aus dem Nachbarzimmer. Josi ist wach.
»Ich seh mal kurz nach deinem
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