Kerstin Gier 2
fühle ich mich schuldig, dass Kurt von den Erlebnissen möglicherweise dauerhaft traumatisiert bleiben könnte, aber ich tue mein Bestes, um ihn seine frühstkindlichen Erfahrungen vergessen zu lassen. Rund um die Uhr bin ich damit beschäftigt, seine Bedürfnisse zu befriedigen, ihn zu füttern, zu putzen, ihm Schlaflieder zu singen oder Geschichten zu erzählen. Einmal kam Kimmy zu uns zu Besuch und ließ es sich nicht nehmen, meine tiefen Augenringe zu kommentieren. Natürlich habe ich nicht zugegeben, dass ich zu Tode erschöpft bin. Dass ich manchmal davon träume, einfach abzuheben und davonzufliegen, frei und ohne Verpflichtungen. Dass ich, wenn es besonders anstrengend wird, Fantasien darüber habe, Kurt aus dem Nest zu schubsen. Doch wenn er mich mit seinen Knopfaugen ansieht, sein Köpfchen reckt und »Mama« zwitschert, dann weiß ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.
Freitag
Ach, diese Geschichte ist ja so süß! Sie zeigt, dass der Muttertrieb sich gegen alle Traditionen zu stellen vermag und einfach übermächtig ist. Ich habe so geheult.
Mami (Kugelbauch) Ellen
Freitag
Ich habe auch beinahe geheult. Vor Fassungslosigkeit! Ich meine, ich hab’s versucht, aber so viel kann ich gar nicht trinken, dass ich mich mit einem VOGEL identifizieren könnte!
Sabine (mit schätzungsweise zwei Promille)
Freitag
Die Botschaft in dieser Gesellschaftssatire ist sehr vielschichtig, denn sie zeigt auf, was man oft einfach so beiseiteschiebt: Dass Elternsein riesige Verantwortung mit sich bringt, der man sich ab und an auch gern mal entziehen möchte. Dass Elternsein Opfer mit sich bringt, die man nicht immer bereit ist zu bringen. Dass Elternsein einfach anstrengend ist. Aber dass das alles irrelevant ist, weil man sein Kind liebt und der Sinn des Lebens nun einmal darin besteht, Nachwuchs großzuziehen. Sehr schön.
Frauke
Freitag
Ich frage mich, ob die Kuckucksmutter ohne Karl nicht besser dran wäre. Er macht mir irgendwie keinen verlässlichen Eindruck.
Mami Gitti
Freitag
Das hast du Recht, Gitti, würde mich nicht wundern, wenn Karl bald fremdvögelt.
Liebe Grüße von Sonja
Gabriella Engelmann
Ich will doch nur spielen
Da sitzt es.
Ein kleines, mieses Monster.
Es lacht mir frech ins Gesicht und streckt mir die Zunge raus. Zwei Rattenzöpfe wippen keck im Wind, und ich koche vor Wut: »Wenn du das wagst, schmeiß ich dich in den Kanal, das schwöre ich dir«, bricht es unkontrolliert aus mir heraus.
»Mach doch, mach doch«, lacht das kleine Monster und bedroht mich weiter mit einer Wasser-Harpune.
Seine Mutter sitzt daneben, blättert ungerührt in einer Zeitschrift und bekommt von alldem nichts mit.
Schauplatz des Tatorts: Eine Parkbank am Ufer des Isebekkanals in Hamburg-Eimsbüttel.
Mutmaßliche Folge der Aktion: Ich werde als Kinderhasserin in die Geschichte eingehen, wegen tätlichen Angriffs auf ein siebenjähriges Mädchen in Handschellen abgeführt und zur Strafe muss ich neun Monate in Untersuchungshaft sitzen.
Kaution wird nicht gestellt, denn jeder wäre auf der Seite des kleinen Mädchens. Die ganze Welt ist nämlich naturgemäß immer auf der Seite der Kinder.
Kinder. Wenn ich das Wort schon höre.
Als wären Kinder eine ganz eigene Spezies und nicht etwas, das im Lauf der Jahre zu dem wird, was gemeinhin unter dem Namen Erwachsener bekannt ist.
»Wären Sie bitte so nett, Ihrer Tochter zu sagen, dass sie mir gleich ein Auge aussticht, wenn sie so weitermacht?«, frage ich die Mutter höflich.
Diese ist empört: »Was für ein Unsinn! Marie-Hélène-Charlene will doch nur spielen. Sie ist ein Kind, keine Verbrecherin!«
Also ich bin mir da nicht so sicher.
Und was ist das überhaupt für ein Name? Phonetisch betrachtet schon einmal der absolute Supergau.
Das blonde Mädchen mit den drei Vornamen zielt, schießt und eine Sekunde später läuft mir Wasser übers Gesicht.
Wenigstens habe ich noch mein Augenlicht.
Es tröpfelt von meinem Kinn ins Dekolleté und läuft zu guter Letzt über den Bauchnabel an meiner Wade entlang.
Bevor ich meine Drohung wahr machen kann, folgt ein zweiter Schwall. Miss Wet-T-Shirt dürfte gegen mich momentan eine Trockenzone sein.
Kein Wunder, dass der Jogger, der bereits in der dritten Runde vorbeikommt, über beide Ohren grinst.
»Hey, das geht jetzt echt zu weit«, schreie ich und stehe auf. Meine Mittagspause hat soeben ein jähes, unschönes Ende gefunden. Dabei wollte ich doch in Ruhe nachdenken.
»Nun
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