Kerzenlicht Für Eine Leiche
nicht zu den üblichen Gaffern gehörte.
»Ich war bei Pater Holland zu Besuch, als er weggerufen wurde.«
»Oh. Pater Holland wird noch eine Weile beschäftigt sein, fürchte ich«, entgegnete der junge Beamte. Er besaß ein unverbrauchtes, rundes Gesicht und sah kaum älter als zwanzig aus.
»Sie fahren besser nach Hause und probieren es später noch einmal.« Seine Stimme klang entschieden und verhalten vorwurfsvoll. Wenn Polizisten in deinen Augen anfangen jung auszusehen, dachte sie, dann weißt du, dass du in Schwierigkeiten steckst. Das sagen alle. Das Alter schleicht heran.
»Verdammt!«, dachte sie ärgerlich.
»Ich bin erst sechsunddreißig!«
»So, du bist also sechsunddreißig«, erwiderte eine gemeine leise Stimme in ihrem Kopf.
»In Tudor-Zeiten betrug die durchschnittliche Lebenserwartung gerade mal einundzwanzig. Und es gibt Orte auf der Welt, wo sie immer noch nicht viel höher ist.«
»In diesen Statistiken ist auch die Kindersterblichkeit enthalten!«, widersprach sie lautlos.
»Miss?« Der Beamte blickte sie besorgt an.
»Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe? Sie sind doch Engländerin, oder?«
»Sicher. Tut mir Leid, dass ich im Weg gestanden habe. Ich bin schon weg.« Sie radelte langsam davon. Wahrscheinlich hielt er sie für übergeschnappt. Sie drehte sich nicht um, um zu sehen, ob er sie beobachtete, doch als sie in die Hauptstraße einbog, tauchte plötzlich die Frage in ihr auf, ob Alan in diese Geschichte dort hinten verwickelt werden würde. Vor ihrem geistigen Auge versank das Kanalboot rasch und lautlos, mit einem großen Leck unterhalb der Wasseroberfläche, und hinterließ nur noch eine Spur aus Blasen.
KAPITEL 3
SUPERINTENDENT ALAN Markby saß in seinem hellen neuen Büro in dem geräumigen Gebäude der Bezirkskriminalpolizei und wusste, dass es griesgrämig gewesen wäre, sich über die Art und Weise zu beschweren, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Schließlich hatte Markby eine ganze Menge Glück gehabt. Er hatte Bamford zwar anlässlich seiner Beförderung verlassen müssen, doch er hatte lediglich sechs Monate in der fremden Umgebung des Nordostens verbracht, bevor man ihm die Möglichkeit geboten hatte, dieses Gebiet zu übernehmen. Rein zufällig schloss es sein ehemaliges Revier mit ein. Besser noch, dadurch hatte sich eine Gelegenheit ergeben, in sein altes Haus zurückzuziehen, das sich wegen des gegenwärtig daniederliegenden Immobilienmarktes nur schleppend verkaufen ließ. Also hatte Markby lediglich das
»Zu Verkaufen«-Schild heruntergenommen und war wieder eingezogen, auch wenn das eine hübsche tägliche Fahrtstrecke zur Arbeit und zurück bedeutete. Das Beste daran war – es hatte ihn zurück in die Nähe von Meredith Mitchell gebracht. Markby hatte allen Grund zu der Annahme, dass sie genauso erfreut darüber war wie er. Unruhe stieg in ihm auf. Meredith war ganz begeistert über ihren geplanten Urlaub auf dem Kanal. Zuerst hatte Markby die Idee selbst ausgezeichnet gefunden. Der grässliche Fund auf dem Friedhof von All Saints hatte alles geändert. Obwohl der Fall bisher noch als
»unautorisierte Bestattung« und
»verdächtig« klassifiziert war, bestand für die Bamforder Polizei kein Zweifel, dass sie es mit dem Opfer eines Kapitalverbrechens zu tun hatten. Als Konsequenz hatte man von Anfang an entsprechend gehandelt und die Bezirkspolizei um Hilfe gebeten. Bamford war einfach nicht ausgerüstet, um kostspielige forensische Untersuchungen zur Identifikation eines unbekannten Skeletts in Auftrag zu geben und eine Ermittlung durchzuführen, die möglicherweise über die Bezirksgrenzen hinausreichte. Bamfords Ressourcen waren beschränkt, und man verfügte weder über die personelle Besetzung noch die Zeit für eine derart langwierige Aufgabe. Also hatte man den Fall an die Bezirkspolizei übergeben, und er war auf Markbys Schreibtisch gelandet. Es erschwerte ihm die Entscheidung ungemein, ausgerechnet jetzt in Urlaub zu gehen. Markby war nicht so arrogant zu glauben, dass er unentbehrlich war, doch er hatte seinen neuen Posten noch nicht so lange, und das hier war möglicherweise der bedeutsamste Fall, der seit seinem Dienstantritt auf seinem Schreibtisch gelandet war. Es war eine Gelegenheit, den Dingen einen Stempel aufzudrücken und festzuschreiben, wie in Zukunft zu verfahren war. Vielleicht bot sich auch eine Gelegenheit, die Büroarbeit zeitweilig hinter sich zu lassen und vor Ort zu sein, wo sich alles abspielte. Früher einmal,
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