Ketchuprote Wolken
sie direkt vor meinem Gesicht. Ihr kleiner Finger streifte meine Nase.
»Weiß ich doch.«
»Wo ist mein Geschenk?«
Ich tat, als erschrecke ich. »Das hab ich ganz vergessen!«
Dots Augen verengten sich. »Du lügst.«
»Nein, wirklich. Ich hab’s vergessen.« Dot packte mich an den Ohren und starrte mir ins Gesicht, Nasenspitze an Nasenspitze.
»Du lügst!« Sie sprang vom Bett, hopste herum und gebärdete wie wild: »Du lügst! Du lügst! Du lügst!«
Lachend stand ich auf, öffnete meinen Schrank und holte das Geschenk heraus, das ich unter meinen Schuhen versteckt hatte. Dot riss das Papier auf und starrte staunend auf die goldene Plastikkrone, auf der Königin der ganzen Welt stand.
»Gefällt sie dir?«
»Die ist toll!«
Wir setzten uns auf den Boden und tranken im Buckingham Palace imaginären Tee.
»Kann ich dir ein Geheimnis sagen?«, gebärdete Dot. Ich verzehrte einen imaginären Keks und wartete ab. »Du bist die Beste von der ganzen Familie. Die Allerbeste.«
Ich berührte ihre Nase mit der imaginären Teetasse. »Danke.«
»Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen hab. Besser als das, was Mum mir gekauft hat.« Dot rümpfte die Nase. »Bücher. Und Buntstifte . Ich hab nicht das bekommen, was ich mir gewünscht hab.«
Ich legte den Kopf schief. »Was war das denn?«
Dot starrte mich traurig an. »Neue Ohren.«
»Hast du dir deshalb einen iPod vom Weihnachtsmann gewünscht?«, fragte ich und zog sie auf meinen Schoß. »Und hattest du bei ihm auch ›neue Ohren‹ auf den Wunschzettel geschrieben?«
Sie nickte. »Aber nur als PS. Ganz unten. Vielleicht hat er das nicht gesehen.«
»Kann schon sein.« Sie tat mir so leid, dass ich sie hin und her wiegte. Was auch nichts änderte, aber ich wollte irgendetwas tun.
Sie schaute mich an, und ihre Augen schimmerten grün. »Warum bin ich so geboren?«
»Ich weiß es nicht. So was kann man sich nicht aussuchen.«
»Das finde ich ungerecht.«
»Ja. Ich auch.«
Ich musste den ganzen Morgen an Dot denken. In der Dusche. Beim Frühstück. Auf dem Weg in die Bücherei. Ganz ehrlich, ich hörte nicht mal Mrs Simpson richtig zu, die sich über ihren neuen Teppichboden ausließ, während ich am Hauptpult saß und beschädigte Bücher reparierte.
» … also hab ich mich schließlich für Olivgrün entschieden.«
»Toll.« Ich pulte an einer Rolle Klebeband herum und fragte mich, ob Mum sich vielleicht tagtäglich auch solche Sorgen um Dot machte.
»Ich meine, ich hatte kurz überlegt, ob ich das Salbeigrün nehmen soll, aber das fand ich dann doch etwas zu kräftig.«
»Ach ja?«
»Also wirklich, Zoe, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie Salbei in dieser Farbe gesehen, und ich muss es wissen, weil ich viel koche, und genau das habe ich auch zu dem Verkäufer gesagt. Nein, ich glaube, die Entscheidung war richtig. Olivgrün ist besser. Ruhiger.«
»Ja, bestimmt.«
»Und außerdem war der noch günstiger, und deshalb konnte ich – ist das nicht dein Freund?«, fragte Mrs Simpson.
»Auf jeden Fall«, sagte ich, weil ich nicht zugehört hatte.
»Da oben? An der Wendeltreppe?«
Sie deutete mit einem Buch in die Richtung, und ich keuchte erschrocken. Aaron hielt oben bei der Belletristik nach einem Buch Ausschau, ohne einen Blick auf mich zu verschwenden. Er kratzte sich am Kopf und machte ein verwirrtes Gesicht, vermutlich absichtlich, damit ich angelaufen kam und ihm half. Ich vermasselte einen Umschlag. Stand auf. Traute mich nicht und setzte mich wieder. Dann zuckte mein Bein plötzlich unter dem Tisch, und ich sprang auf. Kippte die Rückgabebox um und betete innerlich, dass etwas aus der Belletristik drin war.
Zwei Bücher über Strickmuster.
Eines über Brücken.
Ein Nachschlagewerk über Religion.
Sowie ein Roman von George Eliot! Ich drückte ihn an mich und hastete zur Treppe. Aaron hatte jetzt ein Buch aus dem Regal gezogen und vertiefte sich in den Klappentext. Falls er gemerkt hatte, dass ich mich näherte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken, Stu. Dann ging er zur Wendeltreppe. Wir begegneten uns genau auf halber Höhe, und inmitten der spiralförmigen Stufen kam ich mir wie in Aarons DNA vor. Als ginge ich ganz und gar in Aaron auf und sei von ihm umfangen und der Rest der Welt sei gar nicht mehr da.
»Nett, dich hier zu sehen«, sagte ich und lächelte sogar, weil ich sicher war, dass er sich mit mir versöhnen wollte.
»Das ist doch eine öffentliche Bücherei hier, oder? Ich brauchte ein Buch.«
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