Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
das Design der Bombe kümmern. In sein geheimes Sommerseminar beruft er unter anderem Edward Teller und den deutschstämmigen Physiker Hans Bethe. Die Zusammenkünfte finden über Oppenheimers Büro im Dachgeschoss eines weißen, schlossähnlichen Universitätsgebäudes statt. Die zwei Zimmer führen durch Flügeltüren auf einen Balkon hinaus, der aus Sicherheitsgründen wie eine Voliere ganz von Maschendraht umspannt ist. Nach ersten Überschlagsrechnungen wird den Teilnehmern klar, dass die Energiefreisetzung bei der Explosion einer Atombombe den von Frisch und Peierls errechneten Wert um das 150-fache überschreiten werde. Dafür müsse die Masse für Uran-235 allerdings mindestens sechs Mal größer sein, als sie es vorhergesagt haben. Was zwangsläufig zu einer Produktion des Bombenstoffs in großindustriellem Maßstab führen müsse.
Während der exklusive Oppenheimer-Zirkel noch erregt über diese neuen technischen und finanziellen Dimensionen der Kernspaltungsbombe debattiert, fühlt Edward Teller sich offenbar unterfordert und wagt sich bereits einen verwegenen Schritt über das eigentliche Ziel hinaus. Und hier, in Oppenheimers Büro, wo sich in der Nachmittagssonne der Schatten des Maschendrahts als kariertes Muster auf die Papiere legt, lassen Tellers Modellrechnungen eine faszinierende Schlussfolgerung zu. Er stellt sich vor, eine Atombombe als Zünder für rund 26 Pfund flüssigen schweren Wasserstoffs zu benutzen. Die Explosion würde der Sprengkraft von etwa einer Million Tonnen TNT entsprechen. Diese neue Perspektive bringt Teller auf einen weiterführenden Gedanken. Nicht nur diese unglaubliche «Wasserstoffbombe», sondern schon die «konventionelle» Kernspaltungsbombe von schätzungsweise einigen tausend Tonnen TNT könnte den Stickstoff in der Erdatmosphäre und den Wasserstoff in den Weltmeeren entzünden. Hans Bethe hält diese Befürchtungen für apokalyptischen Unsinn. Er rechnet Tellers Vorgaben nach und glaubt, mit seinen Zahlen die Kollegen beruhigen zu können, dass keine noch so gewaltige Atomwaffe die Erdatmosphäre in Brand setzen werde.
Bush und seine Komiteemitglieder wollen endlich Nägel mit Köpfen machen. Labordimensionen genügen nicht mehr. Jetzt müssen millionenschwere Fabrikanlagen für die Produktion von Plutonium und Uran-235 geplant und gebaut werden. Und so fassen sie den Beschluss, das Militär mit der Organisation des Bombenprojekts zu betrauen. Unter der Leitung eines geeigneten Offiziers sollen Atomphysik und Ultramikrochemie, Fabrikkonstruktion und Industriemanagement sowie Maschinenbau und Waffendesign koordiniert und obendrein geheim gehalten werden. Im 18. Stockwerk eines Wolkenkratzers in Manhattan, am Broadway, Ecke Chambers Street, befindet sich das Hauptquartier des Army Corps of Engineers, eine Organisation für militärische Bauvorhaben. Hier wird am 11. August 1942 in einem Akt bürokratischen Understatements eine neue lokale Niederlassung gegründet – der Manhattan Engineer District (MED). Auf den ersten Blick ist es ein ganz normaler Vorgang. Schließlich gibt es auch in Pittsburgh oder in Denver einen entsprechenden Engineer District. Der unverfängliche Name soll die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Vorhaben ablenken und künftig als Tarnbezeichnung für das Atombombenprojekt der amerikanischen Regierung dienen.
Nicht weit vom Büro der Militäringenieure entfernt arbeiten direkt neben dem Woolworth-Gebäude am Broadway im 11., 12. und 14. Stockwerk eines Hochhauses mehrere Arbeitsgruppen der Columbia University in geheimen Labors an der Isolierung von Uran-235. Ein Schatz von 1200 Tonnen Uranverbindungen aus Belgisch-Kongo, die vor dem Einmarsch der Deutschen in Belgien noch nach New York verschifft werden konnten, lagert auf Staten Island, südlich von Manhattan. Auch in Lagerhäusern im Westen von Manhattan Island liegen viele Tonnen Uran [Bro]. Und – nicht zu vergessen – die beiden Russen, die in Sichtweite der Columbia University mit ihrer Eldorado Radium Corporation einen schwunghaften Handel mit Uranerzen betreiben und jedes Mal zusammenzucken, wenn sie den Namen Leo Szilard hören.
Als am 17. September 1942 Brigadegeneral Leslie Groves die Leitung des Manhattan Engineer Districts übernimmt, kann er auf die bewährte Infrastruktur der Heeresbauingenieure zurückgreifen. Bereits an Groves’ zweiten Amtstag spaziert einer seiner Mittelsmänner in das Büro des belgischen Geschäftsmannes Edgar Sengier im Cunard-Gebäude am
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