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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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das zu bedeuten?«
    »Ich bin Rektor Underhill behilflich«, erklärte ich, wobei ich meinen Akzent stark übertrieb – was, wie ich im Laufe der Jahre herausgefunden hatte, eine ausgezeichnete Methode war, exzentrisches Benehmen zu überspielen, die Leute werteten es dann als Eigenart eines Ausländers. »Ich war heute Morgen bei ihm, wir waren als Erste am Ort dieses furchtbaren Geschehens. Und die Kleider des armen Doktor Mercer befanden sich in einem üblen Zustand, daher bin ich gekommen, um Ersatz zu holen, damit man ihn angemessen zur letzten Ruhe betten kann.« Ich setzte eine fromme Miene auf. Noch nie zuvor war mir eine Lüge derart wenig überzeugend über die Lippen gekommen, und an seiner Stelle hätte ich sie keinen Moment lang geglaubt.
    Slythursts Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
    »Verstehe. Und hattet Ihr Mühe, etwas zu finden?« Mit einer spöttischen Handbewegung deutete er auf die Verwüstung im Raum.
    Sein Tonfall hätte die jungen Blätter an den Bäumen welken lassen können. Ich gab seinen verächtlichen Blick so gleichmütig wie möglich zurück.
    »So habe ich den Raum vorgefunden.«
    »Warum habt Ihr dann die Tür verschlossen?«
    »Macht der Gewohnheit.« Ich lachte verlegen. »Es ist töricht, ich weiß – aber in Italien habe ich jahrelang um mein Leben fürchten müssen. Ich habe Orte bereist, wo man nie eine Tür hinter sich offen ließ, und das tue ich auch jetzt noch ganz instinktiv. Ich merke es noch nicht einmal.«
    Slythurst schien einen Moment lang über den möglichen Wahrheitsgehalt meiner Behauptung nachzudenken, danach verschränkte er die Arme vor der Brust, wie um seinem Misstrauen mir gegenüber Nachdruck zu verleihen.

    »Woher habt Ihr den Schlüssel?«
    »Es ist der, den Doktor Mercer bei sich hatte. Als der Coroner eintraf, kam ich hierher, um zu sehen, ob ich irgendwie helfen kann.«
    »Hm.« Slythurst trat ein paar Schritte vor und überflog den Papierwust auf dem Schreibtisch. »Ich bin übrigens hier, um eine Inventur seiner persönlichen Habe, die dann seiner Familie übergeben werden soll, vorzunehmen«, fügte er hinzu, ohne mich anzusehen.
    Es war klar, dass er log, weil er als hochrangiger Universitätsangehöriger nicht verpflichtet gewesen wäre, einem Gast irgendeine Erklärung abzugeben. Ich erhob mich und wandte mich zu ihm, wobei ich darauf achtete, dass das Buch nicht unter meinem Hemd hervorrutschte. Er drehte sich mit immer noch verschränkten Armen um, und wir musterten uns stumm, jeder zweifellos wissend, dass der andere eine unausgesprochene Absicht verfolgte – keiner von uns wagte es jedoch, direkt zum Angriff überzugehen. Ich fragte mich flüchtig, ob wir beide wohl dasselbe suchten, bevor mir wieder einfiel, dass ich ja gar nicht wusste, wonach genau ich überhaupt suchte – nur nach etwas, das vielleicht Roger Mercers Anwesenheit im Garten erklärte. Aber waren Slythurst und derjenige, der den Raum zuvor durchwühlt hatte, auf der Suche nach demselben Gegenstand? Voller Abscheu betrachtete ich sein fahles, fast haarloses Gesicht, und er erwiderte den Blick mit gleicher Abneigung. Könnte er der ursprüngliche Eindringling gewesen sein, der bei seinem ersten Versuch gestört worden war und nun einen zweiten wagen wollte? Ich bezweifelte es; ich hatte seinen Gesichtsausdruck bemerkt, als er die Tür geöffnet hatte – das Chaos hatte ihm einen ebensolchen Schock versetzt wie mir, da war ich mir ganz sicher. Also glaubte mehr als nur eine Person, dass irgendetwas, das sie haben wollten, in Rogers Raum verborgen wäre.
    »Was ist das?« Slythurst brach das Schweigen, indem er auf die Truhe zu meinen Füßen deutete.
    »Ich glaube, das ist Doktor Mercers Geldtruhe.«

    »Und was tut Ihr damit?« Seine Worte klangen so scharf wie in Glas geritzt.
    »Sie war in seinem Schrank. Ich dachte, sie könnte Kleidungsstücke enthalten, und deshalb habe ich sie herausgehoben, um nachzuschauen.«
    Wieder warf er mir von unten einen Blick zu, mit dem man einen Gassenjungen bedenkt, der versucht hat, Brot zu stehlen.
    »Ihr seid mit Blut bedeckt, Doktor Bruno«, bemerkte er, gleichzeitig schnellten seine Augen zurück zum Schreibtisch.
    »Ja, weil ich versucht habe, einem Mann zu helfen, der verblutet ist«, gab ich ruhig zurück.
    »Ihr könnt Euch gar nicht nützlich genug machen, nicht wahr?« Slythurst begab sich hinauf zur Tür der kleinen Schlafkammer und blickte an mir vorbei. »Seid Ihr die Treppe hochgegangen?« , fragte er,

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