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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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werde. Der junge Norris ist ein Meisterschütze. Wären wir nur ein paar Augenblicke früher zur Stelle gewesen, hätte der arme Doktor Mercer vielleicht gerettet werden können.«
    Weston spitzte seine Lippen.
    »Gewiss, na ja – solche wie Gabe Norris wissen mit ihrer Zeit nichts anderes anzufangen, als auf die Jagd zu gehen – ihr erklärter Lieblingssport. Es ist ihm vollkommen egal, ob er seine Prüfungen besteht – Oxford ist für ihn nur eine Stätte des Vergnügens, wo er mit seinen feinen Londoner Kleidern prahlen kann. Was für uns mittellose Studenten, die verpflichtet sind, ständig die Kirche zu besuchen, leider nicht gilt.« Er lachte bitter auf.
    »Ihr mögt ihn nicht sonderlich, nicht wahr?«, stellte ich mit einem nachsichtigen Lächeln fest.
    Weston schien seine Worte schon zu bereuen.
    »Ach, er ist schon in Ordung. Ich habe generell etwas gegen die Commoners – in einer Gemeinschaft von Studenten sollten alle gleichgestellt sein, und niemand sollte sich minderwertig fühlen müssen. Und es ärgert mich, dass die meisten von ihnen ihr Studium grob vernachlässigen. Gabe Norris ist ja eigentlich kein übler Bursche – er geht sehr großzügig mit seinem Geld um, und er ist nicht so dumm wie die meisten seiner Kameraden. Wisst Ihr, dass er ein eigenes Pferd besitzt, Sir?« Er hielt inne und schüttelte neiderfüllt den Kopf. »Einen gescheckten Wallach, das prächtigste Tier, das Ihr je gesehen habt. Er hat ihn in einem Stall außerhalb der Stadtmauern untergebracht, denn
die Studenten dürfen keine eigenen Pferde halten. Aber er tut, was er will. Wer würde ihn auch bestrafen wollen?«
    »Er kommt mir sehr selbstsicher vor«, stimmte ich zu. »Ich könnte mir gut vorstellen, dass er bei Frauen leichtes Spiel hat, er ist ja zudem ausgesprochen attraktiv.«
    Weston drehte den Kopf, um mich anzusehen. Ein tückisches Grinsen verzerrte seine Züge.
    »So, das könntet Ihr Euch gut vorstellen «, zischte er. Die seltsame Betonung des letzten Wortes weckte zusammen mit dem boshaften Lächeln einen Verdacht in mir.
    »Aha«, brummte ich. »Master Norris’ vornehmliches Interesse gilt also nicht unbedingt dem anderen Geschlecht?«
    »Ich will ihm nichts Übles nachsagen, Sir. Ich habe keine Ahnung, was er in seiner Freizeit treibt, ich weiß nur, was allgemein gemunkelt wird.«
    »Aus Neid werden viele Gerüchte in die Welt gesetzt«, bemerkte ich, während wir weitergingen. »Was erzählt man sich denn so über ihn?«
    Weston senkte verlegen den Blick.
    »Nun, zum einen besucht er niemals ein Freudenhaus, Sir.«
    »Das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass er ein Sodomit ist.« Obwohl es mich insgeheim nicht wundern würde, wenn dies im Fall von Norris der Wahrheit entspräche, es würde zu seinem geckenhaften Gehabe passen. Ich erinnerte mich auch an den neugierigen Blick, den er mir zugeworfen hatte, als ich die Tirade des heiligen Bernadino gegen Sodomiten erwähnte. »Und Ihr solltet solchen Klatsch lieber für Euch behalten – auf Sodomie steht in diesem Land der Tod durch den Strang.«
    »Ja, Sir. Ihr habt ganz recht, Sir.« Weston machte ein betretenes Gesicht. »Aber es ist uns allen aufgefallen – wenn ein hübsches Mädchen einen anschmachtet und man vollkommen unbeteiligt bleibt, dann kann man doch kein richtiger Mann sein, findet Ihr nicht?« Das Blut war ihm in die Wangen gestiegen. Sein Ausbruch verriet mir, auf welches hübsche Mädchen er
sich bezog: Im unmittelbaren Umfeld der jungen Männer gab es ja nur eines.
    »Ihr meint die Tochter des Rektors?« Es hätte mich nicht überraschen dürfen, sie war die einzige junge Frau hier, da lag es nahe, dass sie ein Auge auf den reichsten und attraktivsten der Studenten geworfen hatte. Trotzdem verspürte ich so etwas wie Enttäuschung. Ich hatte gedacht, ein Mädchen mit Sophias Verstand würde sich nicht von solchen Oberflächlichkeiten blenden lassen. »Sie hat sich Euch anvertraut?«
    »O nein, Sir – und ich habe schon zu viel gesagt.«
    Er versuchte, das Thema zu wechseln, im selben Moment jedoch blieb ich abrupt stehen, weil mir plötzlich bewusst wurde, dass wir uns jetzt am Ende der Brasenose Lane befanden und die Mauer zu unserer Rechten die des Gartens vom Lincoln sein musste. Das darin eingelassene wuchtige Holztor war fest verschlossen – hier musste der Hund in den Garten gelassen worden sein.
    »Wartet bitte kurz.« Ich bückte mich, um den Schlamm am Fuß des Tores zu untersuchen. Er war aufgewühlt; die vielen

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