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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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Füße, die seit dem Morgen hier vorbeigetrampelt waren, hatten alle etwaigen Spuren verwischt, und ich verwünschte mich dafür, nicht geistesgegenwärtiger gewesen zu sein und an dieser Stelle sofort nach Beweisen gesucht zu haben. Ich richtete mich auf und rüttelte an dem Tor. Es war abgesperrt. Gerade als ich mich abwenden wollte, fiel mein Blick auf die Grasbüschel vor dem Tor – dazwischen lag irgendetwas. Unverzüglich bückte ich mich danach … um schließlich einen dünnen, an einem Ende zerrissenen Lederriemen herauszuziehen, der sich gut dafür eignen mochte, einem Hund die Schnauze zuzubinden. Ob er tatsächlich dazu benutzt worden war, wusste ich nicht, aber ich steckte ihn vorsichtshalber ein.
    »Sir, wir werden uns verspäten.« Weston scharrte ungeduldig mit den Füßen, doch mir war nicht entgangen, dass er neugierig verfolgt hatte, wie ich den Riemen an mich nahm. »Wir müssen nur noch bis zum Ende der Gasse, dann sind wir da.«

    Wir gelangten auf einen weitläufigen Platz, an den rechts die Kirche St. Mary grenzte und links hinter der Gartenmauer des Exeter College die Spitztürme der Divinity School aufragten. Vor mir konnte ich die mächtige Stadtmauer sehen, deren zinnenbewehrte Brustwehr sich dunkel vom Himmel abhob. Sowie wir um die Ecke gebogen waren, wirkten wir im Vergleich zur spektakulären Fassade der Divinity School geradezu zwergenhaft klein. Ich blieb stehen, um sie zu bewundern, und verrenkte mir den Hals, um die Türme über den großen Bogenfenstern sehen zu können. Für gewöhnlich prunkten nur Kirchengebäude mit einer solchen Pracht, aber hier war ein weltliches Bauwerk einer Kathedrale nachempfunden und dem Erwerb von Wissen geweiht worden, ähnlich wie die große Kirche San Domenico Maggiore in Neapel, wo ich zuerst die Kunst, eine Disputation zu führen, erlernt hatte. Bei der Vorstellung, dass meine Ideen und Theorien durch diese herrlichen Säle hallen würden, durchströmte mich ein Gefühl tiefer Demut, und ich wollte meinem Führer gegenüber gerade eine diesbezügliche Bemerkung fallenlassen, als mir ein Kribbeln im Nacken plötzlich verriet, dass ich beobachtet wurde. Ich drehte mich um. An dem schwärzlichen Stein der Stadtmauer lehnte mit verschränkten Armen ein hochgewachsener Mann, der mich unverhohlen anstarrte. Er trug ein altes Lederwams und abgetragene Tuchhosen, sein Haar war aus der Stirn bereits bedenklich zurückgewichen, dafür fiel es ihm hinten bis auf die Schultern. Sein Gesicht war mit Pockennarben übersät. Er konnte in meinem Alter stehen oder auch schon die fünfzig erreicht haben. Das Auffallendste an ihm war das Fehlen der Ohren. Hässliche wulstige Narben umgaben die Löcher, wo sie einst gesessen hatten, und verrieten, dass er irgendwann einmal wegen eines Bagatelldelikts vor Gericht gestanden hatte. Unablässig musterte er mich mit diesem kühlen, ruhigen Blick, in dem ich keine Feindseligkeit, sondern eher eine Art belustigter Neugier zu erkennen vermochte. Ich fragte mich, ob sein Interesse meiner Person gälte oder ob er ein Taschendieb und Beutelschneider wäre, der
inmitten der Menge, die zum Ort der Disputation strömte, nach potenziellen Opfern Ausschau hielte. Mir war auf meinen Reisen durch Europa oft aufgefallen, dass alle Diebe der Meinung zu sein schienen, gebildete Männer müssten zugleich auch reich sein, was nach meiner Erfahrung allerdings höchst selten zutraf. War der Mann tatsächlich auf die Börsen anderer aus, ginge er dadurch, dass er so offen in Erscheinung trat, ein großes Risiko ein – eine weitere Festnahme wegen Diebstahls, und ihm drohte der Galgen.
    Bei anderer Gelegenheit hätte ich ihn wegen seines unverschämten Starrens zur Rede gestellt, jedoch durfte ich keine Zeit mehr verlieren, deshalb wandte ich mich dem großartigen Portal der Divinity School zu. Gerade wollte ich die Stufen emporsteigen, da bemerkte ich, wie Doktor James Coverdale selbige hinuntereilte und dabei die jungen Männer in den schwarzen Roben, die sich in Richtung Halle drängten, rücksichtslos beiseitestieß. Als er mich erblickte, blieb er stehen. Ein Ausdruck von Erleichterung huschte über sein Gesicht. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass sich die braun gekleidete Gestalt von der Mauer abstieß und ein paar Schritte nach vorne machte. Coverdale entging dies ebenfalls nicht, er erstarrte und stierte den Mann ohne Ohren an, der direkt zu ihm hinüberschaute und unmerklich zu nicken schien – offensichtlich kannten

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