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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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erklomm seine Kanzel, beugte sich vor und fixierte mich wie eine Schlange das Kaninchen. Stille legte sich über die versammelte Menge. Ich räusperte mich und ergriff das Wort.

     
    Früher an diesem Nachmittag, um Viertel vor fünf, hatte sich bei mir ein Student eingestellt, mit dem Auftrag, mich zur Divinity School zu eskortieren. Der untersetzte, besonnen wirkende Undergraduate mit dunklem Haar, der sich als Lawrence Weston vorstellte, erklärte, der Rektor habe ihn gesandt, damit er mir den Weg zum Austragungsort unserer Disputation weise, der Rektor selbst sei bereits vorausgegangen. Über die höfliche Geste erfreut folgte ich dem jungen Weston über den Hof zum Turmtorhaus. Dort bemerkte ich zwei Diener, die aus dem Treppenhaus des Turmzimmers kamen; sie trugen eine schwere Holztruhe zwischen sich. Ein dritter folgte ihnen, seine Arme voll mit Büchern beladen.
    »Doktor Mercers Besitztümer werden bereits fortgeschafft?«, fragte ich Weston, bemüht, mir mein Erschrecken nicht anmerken zu lassen. Der Junge zuckte nur gleichmütig die Achseln.
    Draußen in der St. Mildred’s Lane stießen wir auf Pförtner Cobbett, der seiner alten Hündin gerade dabei zusah, wie sie vor die Universitätsmauer pisste.
    »Guten Tag, Doktor Bruno«, rief er fröhlich, dabei hob er grüßend eine Hand. »Auf dem Weg zum Schlagabtausch mit dem Rektor?«
    »Buona sera , Cobbett.« Ich deutete beiläufig auf das Torhaus hinter uns. »Wie ich sehe, wird die Turmkammer bereits ausgeräumt.«
    Cobbett kicherte.
    »Das geht hier immer sehr schnell, die Räume der ranghöchsten Fellows sind äußerst begehrt. Doktor Coverdale will so bald wie möglich einziehen.«
    »Er übernimmt also Doktor Mercers Amt?«
    »Es wurde noch nicht offiziell bekannt gegeben, aber von solchen Kleinigkeiten lässt er sich nicht aufhalten. Komm jetzt, Bessie, ab nach Hause!« Die alte Hündin hatte ihr Geschäft erledigt und humpelte mühsam auf das Tor zu. Cobbett scheuchte sie sanft vor sich her. »Ach übrigens, Doktor Bruno – ich habe noch ein Rätsel für Euch.« Er grinste breit und zahnlos.

    »Ich höre.« In der Hoffnung auf neue Informationen kehrte ich eilends um.
    »Der Ersatzschlüssel für Doktor Mercers Kammer, der aus meiner Loge verschwunden war, nun ja … Master Slythurst brachte ihn mir heute Morgen zurück. Hat ihn im nordwestlichen Treppenhaus direkt vor der Turmkammer gefunden, sagt er. Wer auch immer ihn genommen hat, muss ihn am Tag davor dort fallen gelassen haben, ohne es zu merken – in diesen Treppenhäusern ist es finster wie in der Hölle. Na, wenigstens habe ich jetzt wieder einen vollständigen Satz für unseren neuen stellvertretenden Rektor.«
    »Im Treppenhaus? Wie kommt es, dass der Quästor ihn dort gefunden hat?« Ich fragte mich, welche Lüge Slythurst Cobbett wohl aufgetischt hätte.
    »Wahrscheinlich war er auf dem Weg zur Stahlkammer.« Cobbett schlurfte weiter zum Tor und stieß es auf, dann wandte er sich wieder zu mir. »Viel Glück bei Eurer Disputation, Sir«, fügte er hinzu. »Möge der Bessere gewinnen.«
    »Danke«, murmelte ich, während sich meine Gedanken überschlugen. Jetzt stand fast sicher fest, dass Slythurst den fehlenden Schlüssel an sich genommen hatte, um sich Zutritt zu Mercers Unterkunft zu verschaffen. Wäre er wirklich aus offiziellem Anlass dort gewesen, hätte er dem Pförtner keine frei erfundene Geschichte erzählen müssen.
    »Sir, äh … wir müssen uns beeilen, Ihr werdet um fünf Uhr erwartet!«, drängte Weston etwas unbeholfen. Ich fuhr mir mit meinen Händen durchs Haar, wie um meine Gedanken zu entwirren. Es war nicht ratsam, mich mit Schlössern und Schlüsseln zu beschäftigen, wenn halb Oxford meinem Vortrag über die Gesetze des Universums entgegenfieberte – hoffentlich.
    »Ja, Ihr habt recht – tut mir leid. Sputen wir uns jetzt!«, lenkte ich ein.
    »Es heißt, Ihr wärt heute Morgen dabei gewesen, als Gabe Norris diesen Hund erschossen hat, Sir. Habt Ihr alles mit angesehen?«

    Weston fragte mit jugendlicher Begeisterung und sah mich erwartungsvoll an, während er mich zur Brasenose Lane führte, eine schmale, entlang der Nordseite der Universität verlaufende Gasse. Hier war der Boden mit Schlamm bedeckt, und es stank, als wäre das Sträßchen einer von Oxfords Lieblings-Pissplätzen. Ich holte tief Atem, bevor ich meinem menschlichen Wegweiser vorsichtig in die Gasse folgte.
    »Ich war da, ja. Aber wir kamen alle zu spät – was ich mir nie verzeihen

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