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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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bemerkte ich an der Tür ein lange ausgetrocknetes Weihwasserbecken. Am anderen Ende stand ein kleiner Altar, rechts davon ein Chorpult. Kerzen brannten auf jeder Seite der Kapelle und auf dem Altar. Die Männer nahmen auf harten Eichenholzbänken Platz, die offenbar so konzipiert worden waren, dass man unmöglich bequem darauf sitzen konnte – so wurde wohl verhindert, dass jemand während der Predigt eindöste. Durch die schmalen Bogenfenster aus schlichtem Glas flutete frühes Morgenlicht und warf einen feinen Schimmer über die weißen Wände und auf das dunkle Haar Sophia Underhills, die in der vordersten Reihe neben dem Chorpult saß, wo ihr Vater ein wachsames Auge auf sie haben konnte. Ich wunderte mich, dass er ihr gestattete, gemeinsam mit den Studenten den Gottesdienst zu besuchen; zumal ihre Gegenwart bestens dazu geeignet war, junge Männer von ihren frommen Gebeten abzulenken. Dann sah ich, dass ihre Mutter neben ihr saß, die schmalen Schultern bis zu der weißen Haube hochgezogen, mit der sie ihr Haar gebunden und bedeckt hatte. Ringsum saßen die Fellows auf den vorderen Bänken, dahinter die älteren Studenten, die kurz vor ihrem Magister- oder Doktorexamen standen, und am Ende die Undergraduates. Während ich unschlüssig an der Tür verharrte und mich fragte, wo ich Platz nehmen sollte, fiel mir auf, wie klein diese Universitätsgemeinschaft war. Sie konnte nicht mehr als dreißig Männer umfassen, die älteren Fellows mit eingeschlossen. Da sie alle auf
derart beengtem Raum lebten, wüsste sicherlich einer von ihnen, was sich am Morgen zuvor wirklich im Garten ereignet hatte. Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen und entdeckte Thomas Allen und Lawrence Weston inmitten der Undergraduates – von Norris und seinen lärmenden Commoner-Freunden, die er in die Schänke mitgebracht hatte, war hingegen nichts zu sehen. Vermutlich zählte die Frühmesse auch zu den Pflichten, von denen sie sich freikaufen konnten. William Bernard und der Bibliothekar Richard Godwyn saßen auf der vordersten Bank, John Florio, der seinem Nachbarn etwas zuflüsterte, in der Mitte. Dies waren die einzigen Männer, die ich bislang persönlich kennen gelernt hatte, aber genauso gut könnte es sich bei dem großen Unbekannten um jemanden handeln, der sich mir erst noch vorstellen müsste. Es musste sich freilich um ein Universitätsmitglied handeln, denn er hatte gewusst, wo meine Kammer zu finden war. Ich drehte mich um, um die hinter mir sitzenden jungen Männer zu mustern, und die in meinem Blickfeld starrten mit maßvoller Neugier zurück. Diese englischen Burschen sahen in meinen Augen alle gleich aus – blass, unterernährt und ängstlich. Einer von ihnen wusste etwas, das er mir anvertrauen wollte, fürchtete sich aber davor, offen mit mir zu sprechen. Doch wer?
    Ich hatte beabsichtigt, mir einen Platz zu suchen, von dem aus ich alles überblicken konnte, aber Godwyn, der mich an der Tür zögern sah, lächelte und deutete neben sich auf die vorderste Bank. Ich konnte die Aufforderung unmöglich ignorieren; mir war bewusst, dass alle Augen, auch die von Sophia, auf mir ruhten, also ging ich den kurzen Mittelgang entlang und setzte mich zu Godwyn, der mich flüsternd willkommen hieß, bevor wir zum Gebet die Köpfe senken würden. Mir entging nicht, dass sowohl Walter Slythurst als auch James Coverdale fehlten. Sowie die Männer ihre Plätze eingenommen hatten, erhoben sie sich auch schon wieder, weil der Rektor, gefolgt von vier jungen Männern in weißen Chorknabengewändern, auf den Altar zuschritt.
    Als ich den Kopf hob, trafen sich unsere Blicke. Wenn Underhill
überrascht gewesen sein sollte, mich in der Kapelle zu sehen, oder seine schroffen Worte vom Abend zuvor bedauerte, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen intonierte er das Vaterunser.
    »O Herr, öffne meine Lippen«, begann er, und die Gemeinde fiel ein:
    »Und mein Mund soll Dein Lob preisen.«
    Ich war mit der Reihenfolge der vorgeschriebenen Antworten nicht vertraut genug, um fließend mithalten zu können, und sprach daher sehr leise, damit etwaige Fehler nicht auffielen. Dann erhob sich Godwyn, um einige Kapitel aus dem Matthäusevangelium vorzulesen, und nachdem er wieder Platz genommen hatte, stimmte der Chor eine vierstimmige Version des Te Deum laudamus auf Englisch an, die trotz ihrer Schlichtheit bemerkenswert süß und rein klang.
    »Gestern, Gentlemen«, ergriff der Rektor später wieder das Wort, seine Frau und seine Tochter

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