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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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Geschäfte, die mich nach London zurückrufen würden, formell vom Rektor verabschieden sollte, doch dann bekäme ich gewiss zu hören, dass ich gesetzlich verpflichtet wäre, bis zur gerichtlichen Untersuchung zu bleiben und meine Aussage zu machen. Besser, ich machte mich heimlich aus dem Staub und täuschte hinterher Unwissenheit vor. Außerdem wollte ich Underhill nicht die Genugtuung gönnen, mich abreisen zu sehen – er würde denken, er hätte mich vertrieben. Vielleicht könnte ich in der Stadt eine Botschaft für Sidney hinterlassen.
    Gerade wollte ich mich vom Fenster abwenden, als eine Bewegung auf dem Hof meine Aufmerksamkeit erregte. Eine Gestalt in einem schwarzen Umhang mit hochgeschlagener Kapuze löste sich aus der südwestlichen Ecke des Hofes, huschte über das Pflaster und verschwand im Turmbogengang. Augenblicklich spannten sich meine Muskeln an. Ich hatte nicht erkennen können, um wen es sich handelte, aber wenn ich dem Unbekannten rasch folgte, bekäme ich unter Umständen heraus, wer zu dieser frühen Stunde so verstohlen durch die Gegend schlich. Ich griff nach meinem Hemd, dann hielt ich inne und schalt mich einen Narren. Hatte ich nicht eben beschlossen, dass mich das geheimnisvolle Treiben hier nichts mehr anginge? Ich würde heute aufbrechen, und wenn ein Mörder an der Universität sein Unwesen trieb, sollten sie selbst sehen, wie sie mit ihm fertig würden. Meine Versuche, die Wahrheit ans Licht zu bringen, waren mit Verachtung und Drohungen beantwortet worden, und ich wollte nichts mehr damit zu tun haben.
    Als ich mein Hemd und meine Hose überstreifte, begann eine einzelne Glocke klagend zur Morgenandacht zu rufen, und mir fiel wieder ein, dass heute Sonntag war. Die Dienstboten hatten vermutlich einen freien Tag; ich würde kaum jemanden
finden, der mir bei der Suche nach meinem Pferd behilflich wäre, und selbst wenn – ich würde es in die Ställe von Windsor zurückbringen müssen. Und wie ich alleine an einem Sonntag von dort nach London gelangen sollte, war mir ein Rätsel. Meine geplante Flucht begann bei Tageslicht ebenso unüberlegt wie feige auszusehen. Ich goss etwas Wasser aus dem Krug auf dem kleinen Tisch in eine Schüssel und wusch mir das Gesicht. Wenn ich schon gezwungen wäre, noch einen Tag zu bleiben, könnte ich zumindest versuchen, ihn zu nutzen, und ich würde damit beginnen, der Kapelle einen Besuch abzustatten. Nicht, dass ich großen Wert darauf legte, überhaupt an irgendeinem englischen Gottesdienst teilzunehmen – schon die römische Messe hatte mir keinerlei geistige Nahrung geboten, aber ich hatte mich wenigstens über die offen zur Schau getragene Theatralik amüsiert, und der anglikanische Gottesdienst wirkte im Vergleich dazu so fade wie ungesäuerter Teig –, er bot mir jedoch die günstige Gelegenheit, die ganze Universitätsgemeinschaft an einem Ort versammelt zu sehen. Gesetzt den Fall, eines ihrer Mitglieder hätte mir letzte Nacht die seltsame Botschaft geschickt, was ich für wahrscheinlich hielt, dann bestände die Möglichkeit, dass der Betreffende sich durch Blicke oder Gesten verriet. Während ich mir Wasser ins Gesicht spritzte, dachte ich voller Ingrimm an den geheimnisvollen Unbekannten. Wenn er mir irgendwelche nützlichen Informationen zukommen lassen wollte, warum drückte er sich dann nicht klarer aus?
    James Coverdale hatte bei jenem ersten Abendessen erwähnt, dass eine Reihe der Predigten des Rektors auf Foxes Buch basieren würden; falls denn Roger Mercers Tod als makabere Parodie von Märtyrertum hätte gedacht sein sollen, wie mich jemand eindeutig glauben machen wollte, so wäre es durchaus möglich, dass sich der Mörder von den Predigten des Rektors hatte inspirieren lassen. Es wäre dann sogar möglich, dass er sich heute Morgen unter die Gemeinde mischen würde. Erschauernd zog ich meine Stiefel an, und solange die Glocke weiterhin eintönig läutete, schloss ich mich eilig den schwarz gewandeten
Gestalten an, die auf den Haupteingang der nördlichen Gebäudekette zuströmten, über dem die Zeiger der Uhr auf fast sechs standen.
     
    Die Kapelle nahm den größten Teil des ersten Stockwerks des Gebäudes zur Rechten des Bogengangs ein, und pflichtgetreu stieg ich zusammen mit den Studenten und Fellows die dämmrige, nur von einem Kerzenleuchter auf dem Absatz vor uns erleuchtete Treppe empor. Als wir den kargen, weiß getünchten Raum mit den hölzernen Deckenbalken und dem mit Binsen bestreuten Boden betraten,

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