Ketzer
zurück. So, da wären wir!« Er breitete die Arme aus, als wolle er sein kleines Reich umarmen, und lächelte voller Stolz.
Die Bibliothek nahm den ersten Stock der nördlichen Gebäudekette auf der Westseite des zentralen Treppenhauses ein; sie
lag der Kapelle direkt gegenüber, war jedoch eine Spur kleiner. Der Boden war gleichfalls mit Binsen bestreut, Deckenbalken trugen das hohe Dach, und der Raum war im Stil des letzten Jahrhunderts eingerichtet – mit langen hölzernen Pulten, an denen die Studenten die großen handgeschriebenen Bücher studieren konnten, die mit Messingketten an einer unter den Pulten entlang verlaufenden Messingstange befestigt waren. Auf jeder Seite gab es vier solcher Pulte, an jedem Ende des Raumes standen Holzbänke an der Wand, und am der Tür gegenüberliegenden Ende war zusätzlich ein geschnitzter Schreibtisch unter das letzte der auf den Hof hinausgehenden Fenster geschoben worden. Godwyn steuerte darauf zu und legte seine Schlüssel sorgsam neben ein Tintenfass, ehe er mir die Kerze wieder abnahm.
»Welche Bücher interessieren Euch denn besonders, Doktor Bruno, oder soll ich Euch erst einmal unsere wertvollsten Manuskripte zeigen?«, fragte er über seine Schulter hinweg, während er den Raum systematisch der Länge nach durchschritt und die Kerzen in ihren Haltern am Ende eines jeden Pultes sowie in den Wandnischen zwischen den Fenstern entzündete.
»Dies ist doch sicher nicht Eure ganze Sammlung?« Ich deutete auf die an den Pulten angeketteten Bücher.
»Großer Gott, nein, das sind nur die älteren Bücher, die wir leider sichern müssen, um zu verhindern, dass sie gestohlen werden. Die Studenten benutzen diese Werke am häufigsten. Es sind größtenteils Abhandlungen über scholastische Theologie, und sie sind sehr wertvoll. Viele gehören noch zum Vermächtnis unseres großen Gönners.«
»Dekan Flemyng hat sie von seinen Italienreisen mitgebracht, nehme ich an.« Ich nickte nachdenklich. »Und wo bewahrt Ihr die verbotenen Bücher auf?«
Godwyn wurde bleich und starrte mich entsetzt an. Auf seiner hohen Stirn bildete sich eine steile Falte. Er wirkte plötzlich verängstigt.
»Hier gibt es keine verbotenen Bücher, Doktor Bruno. Was meint Ihr denn damit?«
»Kommt schon, Master Godwyn.« Ich hob zum Zeichen, dass ich ihn nicht kränken wollte, beide Hände. »Jede Universitätsbibliothek, die ich kenne, besitzt Bücher, die nicht für die neugierigen Augen der Studenten bestimmt sind. Bücher, bei denen man davon ausgeht, dass nur die älteren Fellows den Inhalt richtig deuten.«
Godwyns Erleichterung war jetzt nahezu greifbar zu spüren.
»Ach so, jetzt verstehe ich! Ja, natürlich – wir haben zahlreiche Bücher, zu denen nur die Fellows Zugang haben. Sie können sie ausleihen und in ihren Unterkünften lesen. Wir bewahren sie dort in dieser Kammer in großen Truhen auf.« Er ging zu einer Tür in der Wand hinter seinem Schreibtisch, öffnete sie und gab den Blick auf eine an die Bibliothek angrenzende Kammer frei. Im Schein der Kerze konnte ich einige mächtige Truhen an den Wänden erkennen. »Im ersten Moment dachte ich, Ihr würdet auf ketzerische Bücher anspielen«, fügte er mit einem verlegenen Lachen hinzu.
»Nein, nein! Soweit ich weiß, wurden die ja alle vor einiger Zeit von den Schergen der Königin beschlagnahmt.«
Godwyn nickte bekümmert.
»Im Jahre 1569 fand eine große Säuberung der Universitätsbibliotheken statt. Alle Bücher, die früheren derartigen Aktionen des Vaters Ihrer Majestät und danach ihres Bruders und ihrer Schwester entgangen waren, wurden fortgeschafft. Bücher, deren Inhalt unter uns gesagt alles andere als ketzerisch war. Nach dem Wiederaufleben des katholischen Glaubens zu Zeiten der Blutigen Maria mussten die Universitäten allemal darauf achten, sämtliche Werke loszuwerden, denen auch nur der leiseste Verdacht von Häresie anhaftete. Unsere Sammlung wurde damals stark dezimiert, wie ich leider zugeben muss.«
»Die Ansichten bezüglich dessen, was man als Ketzerei bezeichnen kann und was nicht, ändern sich mit schöner Regelmäßigkeit je nach Maßgabe derjenigen, die gerade auf dem Herrscherthron sitzen«, stimmte ich zu. »Was geschah denn anschließend mit all diesen beschlagnahmten Büchern?«
Er sah mich so verwirrt an, als hätte er über diese Frage noch nie nachgedacht.
»Ich nehme an, sie wurden verbrannt, aber wenn das der Fall war, dann fanden diese Verbrennungen nicht in der Öffentlichkeit
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