Ketzer
von der Anrede geflissentlich ausschließend, »hat der Tod unsere kleine Gemeinschaft auf grausamste Weise heimgesucht. Ich weiß, dass der tragische Angriff auf unseren im Hain meditierenden teuren Freund Roger Mercer uns alle bis ins Mark erschüttert hat, und mir ist auch bekannt, dass uns angesichts eines so furchtbaren Unfalls der Schock das logische Denkvermögen raubt und wir dazu neigen, uns in wildesten Spekulationen zu ergehen.« An dieser Stelle warf er mir einen viel sagenden Blick zu, aber so flüchtig, dass er kaum zu bemerken war.
Doktor Bernard ließ seine Knöchel knacken; das unangenehme Geräusch hallte durch den stillen Raum.
»Es wäre weit lohnender«, fuhr der Rektor so laut fort, als spräche er vor einer viel größeren Gemeinde, »wenn wir, statt wenig hilfreiche Gerüchte in die Welt zu setzen, dieser Tragödie etwas Gutes abzugewinnen suchten, indem wir uns vor Augen führen, wie kurz unser Leben im Vergleich zur unendlichen Ewigkeit ist, und uns darauf vorbereiteten, dass auch wir täglich vor unseren Schöpfer treten könnten. Lasst uns Roger Mercer angemessen betrauern, aber lasst uns darüber hinaus aus seinem
Tod eine Lehre ziehen und uns fragen, ob wir auf Erlösung hoffen dürften, wenn unsere Zeit auf Erden ebenso plötzlich ablaufen sollte.«
»Das klingt fast, als würde er mit einer weiteren Tragödie rechnen«, flüsterte ich Godwyn zu. Underhill blickte von seinem Pult auf und legte verärgert die Stirn in Falten, obwohl er meine Worte unmöglich gehört haben konnte.
»Und nun wollen wir uns, wie in den letzten Wochen bereits geschehen, wieder Master Foxes Schilderung der Verfolgung der ersten Gläubigen zuwenden, unseren Glaubensvorfahren, die zu einer Zeit lebten, als die Kirche noch rein und unbefleckt war. Doch wir dürfen dabei nicht den Fehler begehen, diese Menschen wie Heilige zu verehren, so wie es die römische Kirche tut, denn sie waren nur Männer und Frauen aus Fleisch und Blut, wie wir auch. Daher sollten wir uns ihren unerschütterlichen Glauben zum Vorbild nehmen und danach trachten, den langen Leidensweg Christi besser zu verstehen und in jeder Lebenssituation so standfest zu bleiben, wie es diese Märtyrer geblieben sind. Da wir nunmehr zur Geschichte des ersten englischen Märtyrers Alban kommen, lasst uns uns fragen, ob wir wirklich der festen Überzeugung sind, dass die Erhaltung des Glaubens das höchste Gut auf Erden ist. Wir leben in schweren Zeiten, meine Freunde.« Er hob geringfügig seine Stimme, als er sich über das Pult beugte, um seine Zuhörer mit einem durchdringenden Blick zu fixieren. »Unsere englische Kirche wird von allen Seiten von jenen bedroht, die uns in den Schoß Roms zurückzerren wollen. Ihr jungen Männer, die ihr hier vor mir sitzt, seid die künftigen Führer der Kirche und des Staates, und ihr wisst nicht, wann ihr in den nächsten Jahren dazu aufgerufen werden könntet, für beide zu kämpfen. Werdet ihr dann gleichfalls, auch im Angesicht des Todes, standfest bleiben? Werdet ihr eure Freiheit gegen die Götzenanbeter und Tyrannen verteidigen, die sie euch nehmen wollen? Ich hoffe und bete, dass dem so sein wird!«
Von den Bänken hinter mir war Geraschel zu hören. Einige
Reihen junger Männer erhoben sich zur Antwort auf diesen Aufruf stolz von ihren Plätzen. Ich empfand Underhills Ton als unterschwellig bedrohlich; ein mühsam unterdrückter Fanatismus schwang darin mit, der mir Unbehagen einflößte, aber seine Worte erinnerten mich an die von Walsingham.
Die Homilie des Rektors glich eher einem Vortrag als einer Predigt, doch zum Glück war sein Talent, Texte zu interpretieren, sehr viel größer als seine Debattiergabe. Gleichwohl versank ich, während er sprach, so tief in meine Überlegungen, dass ich kaum registrierte, wie er bereits das abschließende Altargebet anstimmte. Erst durch einen leichten Rippenstoß Godwyns wurde ich aus meinen Grübeleien gerissen, als alle Männer ringsum sich längst erhoben hatten. Der Rektor und sein Chor verließen die Kapelle, die Gemeinde folgte ihnen gemessenen Schrittes nach draußen, nachdem sie sich durch Strecken und Recken sowie Füßescharren angemessen darauf vorbereitet hatte. Ein junger Mann mit flammend rotem Haar und sommersprossigem Gesicht, der kaum den Kinderschuhen entwachsen war, machte sich im vorderen Teil des Raumes zu schaffen, räumte den Altar ab, klappte die große Bibel auf dem Chorpult zu und blies die Kerzen aus. Sophia lächelte, als sie sich
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