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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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gearbeitet haben, zu der Disputation gegangen.«
    »Und Ihr habt die Bibliothek bis Viertel vor fünf nie unbeaufsichtigt gelassen?«
    »Ihr stellt Fragen wie ein Richter, Doktor Bruno.« Godwyn rang sich ein Lächeln ab, allerdings verrieten mir seine Augen,
dass er auf der Hut war. »Vielleicht musste ich während dieser Zeit die Latrine aufsuchen, ich erinnere mich nicht mehr, aber ich war sicher nicht so lange fort, dass jemand das hier hätte anrichten können.« Er schlug mit der flachen Hand auf Foxes Buch. »Die Zeilen sind mit äußerster Sorgfalt herausgeschnitten worden – meiner Meinung nach war dies kein hektisch vollbrachtes Werk, keines von jemandem, der ständig über seine Schulter geschielt hat.«
    »Nein, gewiss nicht«, stimmte ich zu. »Und es hätte auch niemand hier hereinkommen können, während Ihr bei der Disputation wart?«
    »Nun, die Fellows haben alle einen Schlüssel, wie ich schon sagte, indes, sie waren alle gleichfalls in der Divinity School«, betonte er, wich dabei aber meinem Blick aus.
    Alle außer James Coverdale, dachte ich, doch den hatte ich bereits als Verdächtigen ausgeschlossen, weil er am stärksten darauf versessen gewesen war, mich von meiner Mordtheorie abzubringen.
    »Sonst besitzt niemand einen Schlüssel?«
    »Nur der Rektor. Oh, und natürlich auch …« Er rang mit sich und wurde recht verlegen.
    »Wer denn noch?«, drängte ich.
    »Mistress Sophia benutzt manchmal den Schlüssel ihres Vaters«, nuschelte Godwyn und hielt sich schnell eine Hand vor den Mund, als müsse er husten. »Sie bildet sich ein, sie wäre den Studenten hier ebenbürtig, und ihr Vater lässt sie gewähren. Vermutlich ist diese Nachsicht auf den Verlust seines Sohnes zurückzuführen. – Das mit seinem Schlüssel ist dann natürlich ganz allein seine Sache.« Er schüttelte den Kopf. »Wisst Ihr, ich würde meiner Tochter derlei Dinge nicht erlauben, wenn ich eine hätte. Frauenhirne sind nicht auf Gelehrsamkeit ausgerichtet, und ich muss gestehen, dass ich um Sophias Gesundheit fürchte. Aber eigentlich muss ich ja schon dankbar dafür sein, dass er ihr den Zutritt zur Bibliothek nur gestattet, wenn sich keiner der Studenten hier aufhält. Sonst würden sie alle hinter
ihr herhecheln wie heiße Hunde, und ich will nicht, dass meine Bibliothek für unschickliche Aktivitäten missbraucht wird. Mit ihrem eigenen Schlüssel kann sie wenigstens herkommen, wenn die jungen Männer gerade ihre Vorlesungen besuchen.«
    »Benutzt sie die Bibliothek auch dann, wenn Ihr nicht da seid, um sie zu beaufsichtigen?«
    »Ich denke schon«, erwiderte Godwyn resigniert. »Wenn ihr Vater ihr die Erlaubnis dazu erteilt, kann ich nichts dagegen unternehmen – außerdem dürfte sie ja wohl kaum die Absicht haben, Bücher zu stehlen, nicht wahr?«
    Nein, grübelte ich, allerdings könnte sie ihren Schlüssel dazu benutzt haben, um sich gestern Abend Zutritt zu diesen Räumlichkeiten zu verschaffen, denn sie wusste, dass sämtliche Universitätsmitglieder mindestens eine Stunde lang in der Divinity School sein würden. Sie hatte mit keiner Wimper gezuckt, als ich gestern besagtes Zitat erwähnt hatte, doch das war noch lange kein Beweis für ihre Unschuld. Nur – warum um alles in der Welt sollte Sophia mir eine anonyme Botschaft zukommen lassen und dann Unwissenheit vortäuschen, wenn sich ihr die Gelegenheit geboten hatte, mit mir unter vier Augen über die ganze Angelegenheit zu sprechen? Die Person, die mir die Botschaft geschickt hatte, legte eindeutig großen Wert darauf, nicht als Quelle der Information identifiziert zu werden, so kärglich diese auch war – könnte es demzufolge sein, dass Sophia etwas über jemanden an der Universität wusste, aber nicht riskieren durfte, ihn öffentlich anzuprangern? Könnte es sich bei diesem Jemand sogar um ihren eigenen Vater handeln?
    »Danke, Master Godwyn.« Ich erhob mich von seinem Stuhl und wandte mich zum Gehen.
    »Oh, ich habe Euch aber noch gar nicht unsere illustrierte Ausgabe der Briefe des heiligen Cyprian gezeigt, die Dekan Flemyng ebenso aus Florenz mitgebracht hat!«, setzte er noch einmal neu an. Unverkennbare Enttäuschung verdunkelte seine Augen. Ich betrachtete sein Gesicht, als ich mich mit einer Entschuldigung verabschiedete; diese großen, melancholischen
Augen verliehen seinem Gesicht einen Ausdruck entwaffnender Offenheit. Nichtsdestotrotz wusste ich jetzt, dass auch Godwyn ein Mann war, der seine eigenen Geheimnisse hütete, und ich

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