KGI: Dunkle Stunde (German Edition)
ihr neue Kraft. Sie stützte sich auf und robbte los. Direkt über ihrem Kopf schlug eine Kugel in einen Baum. Sie zuckte zusammen und legte sich schnell wieder flach auf den Bauch.
Als keine weiteren Kugeln den Boden um sie herum aufwühlten, setzte sie sich wieder in Bewegung und schickte bei jedem Zentimeter Bodengewinn ein Stoßgebet zum Himmel. Das Gewehrfeuer verstummte, doch das beruhigte sie nicht. Im Gegenteil. Eine heftige Panik befiel sie. Jetzt, da die Männer nicht mehr abgelenkt waren, würden sie erst recht hinter ihr her sein.
Sie kroch schneller. Jeder Atemzug bereitete ihr Schmerzen in der Brust. Schweiß lief über ihr Gesicht. Oder waren es Tränen?
Sie robbte direkt in die Leiche hinein. Sie war zu erschrocken, um zu schreien oder auch nur zu kapieren, dass der Mann tot war. Alles war voller Blut. Das Gewehr hielt er noch immer fest umklammert.
Sie kannte diesen Mann. Sie hasste ihn und empfand keinerlei Mitleid. Mit größerer Kraft, als sie sich selbst zugetraut hätte, entwand sie ihm das Gewehr und robbte weiter.
Die Männer würden sie nicht dorthin zurückbringen. Sie würde sie umbringen. Ausnahmslos.
Als sie sich weit genug von der Leiche entfernt hatte, verschnaufte sie erst einmal. Sie hatte Seitenstechen, die Schulter brannte, durch den Tränenschleier konnte sie kaum noch etwas erkennen. Ihr steckte ein Schluchzer in der Kehle, aber sie schluckte ihn sofort hinunter. Aus Angst, sich zu verraten, senkte sie den Kopf und legte das Gesicht in die freie Hand. Sie musste sich kurz ausruhen. Nur ganz kurz.
Mehrere Minuten vergingen, oder waren es Sekunden? Ihr kam es vor wie eine Ewigkeit. Plötzlich hörte sie ihren Namen. Ein ganz leises Flüstern, das der Wind zu ihr trug. Rachel .
Sie schrak zusammen, sah aber nicht hoch. Sie riefen sie nie bei ihrem Namen.
»Rachel.«
Sehr nahe diesmal.
Sie hob den Kopf, packte das Gewehr, rollte sich zur Seite und schwang den Lauf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein merkwürdiger Mann starrte sie mit ausdruckslosem Gesicht an. Seine stahlblauen Augen gaben nicht preis, was er dachte. Er schien die Ruhe in Person zu sein und keineswegs beunruhigt, dass sie mit einer Waffe auf ihn zielte.
Sie versuchte, von ihm wegzurutschen, verfing sich jedoch in den Schlingpflanzen. Sie stieß das Gewehr vor, achtete aber darauf, dass sie mit dem Finger am Abzug blieb.
Hinter dem Mann tauchte ein weiterer Mann auf. Sam. Wortlos stellte er sich zwischen sie und den anderen.
»Verschwinde, Steele«, murmelte er.
Beruhigend streckte er ihr eine Hand hin, in der anderen baumelte sein Gewehr, aber er machte keinerlei Anstalten, es auf sie zu richten. »Rachel, hör mir zu. Ich tue dir nichts. Ich schwöre es. Leg die Waffe weg und komm mit. Ich bringe dich zu Ethan.«
Schlagartig traten ihr Tränen in die Augen. Sie hatte einen Kloß im Hals, und so oft sie auch schluckte, sie brachte ihn nicht hinunter.
Sie konnte ihm nicht trauen. Er log sie an. Ethan war tot. Sie hatte das Blut gesehen und wie er zu Boden gegangen war, kurz nachdem er ihr zugerufen hatte, sie solle losrennen. Sie ignorierte die Schmerzen, um auf die Beine zu kommen. Unsicher stand sie da. Sam entspannte sich und hielt immer noch die Hand ausgestreckt, aber statt zu ihm zu gehen, wich sie zurück, den Blick fest auf ihn und den anderen Mann gerichtet, der direkt neben ihm stand.
Zitternd hob sie das Gewehr, zielte auf einen Punkt zwischen den beiden und hoffte, dass sie fortgehen würden. Sam kniff kurz die Augen zusammen und machte dann einen Schritt auf sie zu.
»Nein«, rief sie mit erstickter Stimme und zielte jetzt auf ihn.
Er hob eine Hand und trat vorsichtig wieder zurück.
»Rachel«, sagte er besänftigend. »Liebes, ich will dir helfen. Es wird Zeit, dass du nach Hause zurückkehrst. Zu den Menschen, die dich lieben. Zu deiner Familie.«
Das Herz setzte einen Schlag aus. Familie? Sie konnte sich an keine Familie erinnern. Erinnern konnte sie sich nur an Ethan, sonst an nichts, und auch an ihn nur undeutlich. Wann hatte sie alles vergessen? Nur endlose Schmerzen und die Angst waren ihr im Gedächtnis geblieben. Außerdem die Benommenheit nach den Injektionen und das kribbelnde Verlangen, wenn sie zu lang auf die nächste Dosis warten musste.
Ganz kurz zögerte sie, der Gedanken an eine Familie war allzu verlockend. An ein Zuhause. An Menschen, die sie mochten. Doch dann fiel es ihr wieder ein. Ethan war tot. Er war alles gewesen, was sie hatte. Alles,
Weitere Kostenlose Bücher