Kill Decision
entkommen konnte, war zum Tode verurteilt. Es gab authentifizierte Berichte über tödliche Siafu-Attacken auf eingeschlafene Betrunkene, unbeaufsichtigte Säuglinge und angepflockte Ziegen oder Kühe. Durch Tausende in Rachen und Lunge eindringender Ameisen erstickt, wurden die Opfer innerhalb von Stunden bis auf die Knochen abgenagt. Aufhalten konnte man den Schwarm nicht. Die einzige Möglichkeit bestand darin, ihm aus dem Weg zu gehen. Doch selbst die gefürchteten Siafu flohen vor den Weberameisen.
Weberameisen waren so aggressiv, dass McKinney, wenn sie durch die Mangoplantagen ging, hören konnte, wie sie ihre Truppen zusammenriefen: Sie trommelten mit den Beinen auf Blätter, ein Geräusch wie von Regentropfen. Kollektiv beherrschten sie die Baumkronen Afrikas so wie ihre nahen Verwandten Oecophylla smaragdina die Bäume Asiens und Australiens. Noch mehr aber faszinierte McKinney die Tatsache, dass ihre Herrschaft schon siebenundvierzig Millionen Jahre andauerte. Die menschliche Zivilisation war gerade mal ein Flackern auf ihrem Radarschirm.
Die Weberameisengesellschaft war so anpassungs- und widerstandsfähig, dass diese Insekten Eiszeiten ebenso überlebt hatten wie Massenextinktionsereignisse – etwa den Asteroideneinschlag, der am Ende der Kreidezeit, vor sechsundsechzig Millionen Jahren, das Aus für die Dinosaurier bedeutet hatte. Und die Weberameisen hatten nicht nur überlebt, sondern sich munter verbreitet. In Biomasse gemessen, machten sie inzwischen der Menschheit Konkurrenz. Zahlenmäßig gingen sie in die Billiarden. Sie waren eine der erfolgreichsten und robustesten Spezies auf Erden. Das war einer der Gründe, warum McKinney ihr Leben der Erforschung dieser Kreaturen widmete. In ihnen verkörperte sich ein uraltes Wissen um Zukunftsfähigkeit, wie es sich die Menschen nur erträumen konnten. Und sie waren noch auf so vielen anderen Ebenen faszinierend.
Was McKinney ursprünglich bewogen hatte, sich der Myrmekologie – der Ameisenkunde – zuzuwenden, war die einzigartige evolutionäre Strategie der sozialen Insekten: Während die meisten Organismen nur einen Körper hatten, waren die Hymenoptera – die Hautflügler, zu denen unter anderem Wespen, Bienen und Ameisen zählten – letztlich ein einziger Organismus, der aus Millionen einzelner Körper bestand. Der Physiker Lewis Thomas hatte Ameisen einmal «ein Gehirn mit einer Million Beinen» genannt. Es war, als könnte man seine Hand losschicken, etwas zu holen, während man gleichzeitig woanders etwas anderes machte. Laut dem großen Myrmekologen E. O. Wilson waren die Ameisen ein «Superorganismus» – ein Organismus, der die begrenzten Fähigkeiten der einzelnen Körper transzendierte, um einen kollektiven Willen umzusetzen. Und der über eine Intelligenz verfügte, die der Intelligenz der einzelnen Ameise weit überlegen war. Wie genau das vor sich ging, war noch unbekannt, ein Mysterium, das zu ergründen McKinney sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte.
Sie blickte auf den Bildschirm und tippte dabei Beobachtungen in ihren Laptop und sprach per Freisprechtelefon mit einem mehrere Meilen entfernten Doktoranden. «Mike, checken Sie mal die Linse von Kamera neun. Da ist eine Okklusion, die die Tracking-Software irritiert.»
«Mach ich. Rich, kannst du mal den Lift zu mir fahren?»
Eine andere Stimme war zu hören. «Kommt.»
«Danke.»
McKinney zoomte aus. Auf dem Panorama-HD-Monitor erschienen Dutzende Video-Thumbnails, die, sobald sie sie zusammenfügte, das dreidimensionale Modell eines ganzen Mangobaums bildeten. Sie drehte das Modell wie in einem Videospiel – nur dass der Baum tatsächlich existierte und es sich um Echtzeitbilder handelte. Der Baum stand an einem der grünen Hänge nahe der Marikitanda-Forschungsstation, wo sich McKinneys Feldlabor befand. Die gesamte Oberfläche des Mangobaums wurde von Dutzenden Digitalkameras gefilmt, die auf Gerüsten ringsum montiert waren. Software fügte die Bilder zu einem einzigen um den Baum gelegten Live-3-D-Bild zusammen. Es war nur einer der zwölf Bäume, die die Domäne dieser Kolonie bildeten – einer knappen halben Million Ameisen, verteilt auf einem Areal von etwa achthundert Quadratmetern. Es hatte jahrelange Arbeit und diverse Forschungsmittelanträge gebraucht, dieses System auf die Beine zu stellen und derart detaillierte und vollständige Bilder einer ganzen Weberameisenkolonie in Echtzeit zu erhalten. Aufnahmen des Superorganismus in Aktion. Und das alles, um zu
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