Killerinstinkt: Serienmördern auf der Spur (German Edition)
seine Schuhe waren noch da.
Eine hektische Suche begann, denn der Junge war zum Zeitpunkt seines Verschwindens nur mit einem Schlafanzug bekleidet, obendrein barfuß. Hundertschaften der Polizei durchkämmten fieberhaft die Umgebung des Ferienlagers, Hundeführer und Taucher suchten nach dem Jungen. Doch alle Bemühungen blieben erfolglos.
Anfangs glaubte die Kripo, Adrien könnte ausgerissen oder von seinem Vater, der von der Familie getrennt lebt, abgeholt oder entführt worden sein, vielleicht auch von einem Erpresser. Doch dieser Verdacht erwies sich als falsch: Der Vater konnte ein lückenloses Alibi vorweisen, und auch Tage nach dem Verschwinden gab es keine Lösegeldforderung. Also musste von einem Gewaltverbrechen ausgegangen werden.
Nach wie vor werden großangelegte Suchaktionen durchgeführt und bleiben doch ohne handfestes Ergebnis. Sechs Wochen lang geht das so, bis schließlich am 19. Mai eine Spaziergängerin die Leiche des vermissten Jungen entdeckt: in einem Teich treibend, nackt, gefesselt, grässlich entstellt. Die Leiche war mit einem Baustein beschwert worden, der sich später aber gelöst hatte. Der Fundort liegt unweit der Gemeinde Guérande, etwa dreißig Kilometer vom Schullandheim entfernt.
Die Ausgangssituation könnte für die französische Sonderkommission »Disparition 44« schlechter nicht sein: Es gibt keine Zeugen, die Todesursache lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen, auswertbare Spuren sind nicht vorhanden. Folglich haben die Ermittler auch keinen Verdächtigen. Doch ein Aspekt bietet immerhin einen Fahndungsansatz: Der Teich befindet sich neben einem Anwesen und wird von einer zwei Meter hohen Mauer verdeckt. Selbst viele Dorfbewohner wissen nicht, dass sich hinter dieser Mauer ein Teich verbirgt. Aber der Täter muss es gewusst haben, denn die Kripo hält es für ausgeschlossen, dass der Unbekannte den Teich beim Vorbeifahren zufällig entdeckt haben könnte. Außerdem muss der Täter einen PKW benutzt haben, anders wäre der Transport des Leichnams über viele Kilometer hinweg nicht durchzuführen gewesen. Demzufolge dürfte der Täter einen Bezug zu dem Ort Guérande haben.
Ähnlich bewerten auch die Fallanalytiker der Soko »Kevin« den Sachverhalt, die von dem Mord an Adrien Mouton erfahren haben und einen Zusammenhang zu der Mordserie an Knaben in Deutschland vermuten. Die Spezialisten haben sich deshalb frühzeitig mit den französischen Kollegen über den Fall ausgetauscht.
Nach Auffassung der deutschen Experten weist die Distanz zwischen Entführungsort und Leichenfundort eher auf einen ortsfremden Täter hin. Denn um an das Gewässer zu gelangen, musste der Täter auch die Loire überqueren. Und ein Einheimischer hätte sehr wahrscheinlich nicht diese Strecke gewählt, wird vermutet, denn aus jüngeren Forschungsarbeiten zu Sexualmorden weiß man, dass solche Täter Brücken als geographische Barrieren wahrnehmen und sie meiden, sofern sie in der Umgebung des Tatortes wohnen. Ergo: Der Mörder stammt nicht aus der Region, kennt aber sehr wohl den Leichenablageort.
Der Teich liegt direkt neben einem alten Gutshaus. Bei den Ermittlungen kommt schließlich heraus: In dem Anwesen wurden vor Jahren Ferienwohnungen vermietet, ein norddeutscher Reiseveranstalter hatte das Gutshaus Mitte der 1990er Jahre ebenfalls in seinem Katalog. Diese Erkenntnis, die Tatsache, dass wieder ein Junge aus einem Schullandheim entführt und ermordet wurde, und die vermutete Verbindung des Serienmörders nach Norddeutschland lassen die Fallanalytiker einen Zusammenhang für alle Morde annehmen. Der Fall wird immer monströser.
Kopfzerbrechen bereitet den Fallanalytikern jedoch nach wie vor das mitunter stark abweichende Tatverhalten: Einerseits wurde gegen die meisten Opfer keine physische Gewalt angewendet, andererseits mussten fünf Jungen sterben. Dass der Täter die meisten Opfer am Leben ließ, könnte nach Einschätzung der Experten mit dem Verhalten der Getöteten zu erklären sein. Möglicherweise wehrten sich die Jungen oder schrien, und der in diesen Fällen ausnahmsweise demaskierte Täter geriet in Panik und tötete die Kinder, um eine weitere Eskalation der Tat und seine Identifizierung zu verhindern. Also Verdeckungsmorde. Oder aber seine perversen Phantasien sind an eine Tötung gekoppelt und flammen nur in zeitlichen Abständen auf, wenn das Verlangen, die vorphantasierte Tat zu realisieren, überhandnimmt und ihn zum Handeln zwingt.
Trotz der neuen Sachlage vermuten
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