Killerinstinkt: Serienmördern auf der Spur (German Edition)
attackiert, wo sie sich am sichersten fühlen: in ihrem eigenen Bett; an jenem Ort, von dem die Eltern noch gesagt haben, dort könne nichts passieren. Und es passiert doch: Ein schwarz gekleideter, maskierter, hünenhafter Mann steht plötzlich neben dem Bett, dem Jungen schlägt das Herz bis zum Hals, er ist stocksteif vor Angst, bringt keinen Ton heraus und starrt an die Decke, während der Mann seiner perversen Begierde freien Lauf lässt – eine traumatische Erfahrung, die viele Kinder über Jahre hinweg belasten und begleiten wird, manche von ihnen lebenslänglich.
Nach der Entführung und Ermordung von Kevin Golombek haben sich viele Eltern geweigert, ihre Kinder in das Schullandheim, aus dem der Junge verschleppt wurde, fahren zu lassen. Die Verantwortlichen des Heims sind daraufhin initiativ geworden und haben mehr als 60 000 Mark in Sicherheitsmaßnahmen investiert. Der Ort, an dem Kinder unbeschwert spielen sollen, ähnelt nun einer Festung: Alle Fenster bestehen aus Verbund-Sicherheitsglas und sind vergittert, die Feuerschutztüren haben Panikriegel, die Notausgänge in den Schlaftrakten sind dreifach verriegelte Holztüren und von außen nicht zu öffnen, alle Ausgänge werden durch eine Alarmanlage gesichert, das gesamte Heim wird dauervideoüberwacht, es existieren nun auch Bewegungsmelder mit Schockbeleuchtung. Und obendrein wurden Gänsegehege als »biologische Alarmanlage« gebaut.
Um sich vor dem Täter wirksam zu schützen, werden in den Schulen der Region während des Unterrichts die Türen verriegelt, Kinder dürfen das Elternhaus nicht mehr allein verlassen, auch Erwachsene fürchten sich vor dem mysteriösen Serienkiller, der nachts umgeht und die Kinder holt. Die Schullandheime und Jugendherbergen stehen schon bald vor dem finanziellen Ruin, denn die Besucherzahlen sind stark rückläufig, das Risiko, die eigenen Kinder könnten in Gefahr geraten, erscheint den meisten Eltern zu hoch.
Die Öffentlichkeitsarbeit der Soko »Kevin« trägt Früchte. Bis März 2002 sind mehr als 1700 Hinweise eingegangen, davon gelten etwa 1000 bereits als erledigt. Die Kriminalisten haben mittlerweile knapp 10 000 Personen in der Ermittlungssoftware namentlich erfasst, ein logistischer Kraftakt, der alle Beteiligten an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führt.
Aufgrund der intensiven Ermittlungen und abermaligen Vernehmungen der Missbrauchsopfer können dem Täter nunmehr zwanzig weitere Taten zugeordnet werden, verübt in Schullandheimen und ähnlichen Einrichtungen, größtenteils in Hepstedt, einer Tausend-Seelen-Gemeinde im Kreis Rotenburg an der Wümme. Einiges spricht dafür, dass der Täter hier seine unheimliche Serie begonnen hat.
Die Beamten glauben, inzwischen ein wichtiges Detail hinsichtlich der Handschrift des Serientäters erkannt zu haben, das ein bestimmtes Bedürfnis verrät und die innere Handlungsstruktur kennzeichnet: Er gewinnt seinen Kick durch das Risiko, entdeckt zu werden. Deshalb dringt er ausnahmslos in Schullandheime, Jugendherbergen, Zeltlager und Wohnungen ein. Nach Einschätzung der Ermittler reizt es ihn, sich der Gefahr des Entdecktwerdens auszusetzen und doch unerkannt zu bleiben. Er genießt das Gefühl der Macht, er nähert sich den Opfern dort, wo sie sich unverwundbar wähnen. Er kommt und geht, wann es ihm beliebt, er ist Herr im fremden Haus. Und er attackiert nicht nur die sexuelle Integrität der Kinder, sondern raubt ihnen auch das Gefühl der Sicherheit.
Weil die Fallanalytiker annehmen, der Täter könnte wegen Sexualdelikten bereits mit der Polizei in Kontakt gekommen oder sogar vorbestraft sein, haben sie damit begonnen, alle in Frage kommenden Männer, die im Einzugsgebiet der Tatorte wohnen oder dort gewohnt haben, zu überprüfen. Dabei wird auch der Umstand berücksichtigt, dass der Täter irgendeine Verbindung zu den betroffenen Heimen haben könnte. Aus diesem Grund werden auch die dort zuständigen Bezugspersonen vernommen und überprüft. Alle dabei anfallenden Daten, auch die Ergebnisse der früheren Mordkommissionen, werden erfasst und abgeglichen. Doch eine heiße Spur ergibt sich dadurch nicht.
Während den Eltern der missbrauchten Opfer zumindest ihre Kinder geblieben sind, suchen die Mütter und Väter der ermordeten Jungen Trost an deren Gräbern, Woche für Woche. Sie finden aber auch dort keine Ruhe und können nicht verstehen, warum all das passiert ist, warum es ihnen passiert ist, warum es ausgerechnet ihrem Sohn passieren musste.
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