Killerinstinkt: Serienmördern auf der Spur (German Edition)
eigener Erfahrung. Und jetzt bringt ihm ausgerechnet ein auserkorenes Opfer Einfühlungsvermögen und Verständnis entgegen. Das überfordert ihn. Gleichzeitig ist Heidi Jäger aus dem erwarteten Schema herausgetreten: Ihr Verhalten passt nicht in seine Phantasie einer letztlich gesichtslosen Frau, die seiner Macht als Mörder ausgeliefert ist. Damit hat sie ihm seine Grenzen als Täter aufgezeigt. Und genau deshalb kann er die Rolle des Täters nicht weiterspielen und flüchtet nach seiner Demaskierung.
Heidi Jäger würde heute höchstwahrscheinlich nicht mehr leben, hätte sie sich so verhalten wie die Opfer vor und nach ihr. Ihr intuitives Handeln hat sie gerettet. Aber das heißt keineswegs, dass diese Strategie immer zum Ziel führt. Das Verhalten des Opfers kann eskalierend oder deeskalierend wirken. Der Ausgang eines Verbrechens ist jedoch nicht vorhersehbar und auch nicht festgelegt, das gilt auch oder erst recht beim Mord in Serie. Es sind immer unterschiedliche Entwicklungen möglich, überall und jederzeit. Zwar kann es grundsätzlich jedem Opfer in allen Phasen eines Verbrechens gelingen, dem Widersacher Paroli zu bieten, ihn zu enttarnen, ihn sogar in die Flucht zu schlagen, doch hängt es regelmäßig von der Situation, der Persönlichkeit und den Lebenserfahrungen von Täter und Opfer ab, welches Verhalten entscheidend dafür ist, das Schlimmste zu verhindern. Die Überforderung und die durchbrochene Phantasie hätten Thomas Graber ebenso dazu veranlassen können, Heidi Jäger auf besonders brutale Weise zu töten.
Charakter: Verbrecher
Irgendwann im Frühling des Jahres 1999. Ich sitze am späten Nachmittag im Lesesaal der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart und recherchiere zu einer Mordserie. Der Täter hat zuvor mehrere Vergewaltigungen begangen, über die ich mehr erfahren möchte. Die Recherche ist mühselig, da ich an einem Lesegerät sämtliche Microfiches (auf Planfilm verkleinerte Abbildungen von Druckerzeugnissen – eine über 150 Jahre alte Methode zur Archivierung) verschiedener Tageszeitungen durchsehen muss. Nachdem ich in der Stuttgarter Zeitung zweimal fündig geworden bin und die Artikelseiten ausgedruckt habe, glaube ich im ersten Moment, eine weitere Fundstelle entdeckt zu haben, jedenfalls deutet die Überschrift darauf hin: »Auf Vergewaltigungen folgte Mord«.
Beim Lesen stelle ich jedoch schnell fest, dass dort über einen anderen Kriminalfall berichtet wird. »Vor dem Landgericht in Essen muss sich ein 33-jähriger Maurer verantworten«, heißt es in dem Artikel weiter, »der zwischen 1991 und 1993 in Stuttgart und Dortmund fünf Frauen vergewaltigt und zuletzt im westfälischen Haltern ein 24-jähriges Opfer ermordet hat.« Im nächsten Absatz erfahre ich, dass Joachim Mattock, der Täter, bereits wegen eines Mordes vorbestraft war, begangen in der ehemaligen DDR. Und im Mai 1993 verübte er ein weiteres Tötungsdelikt: »In der Nähe des Rombergparks, einem beliebten Ausflugsziel im Dortmunder Süden, überfiel er eine Frau, zog sie in ein Versteck und versuchte sie zu vergewaltigen. Sein Opfer wollte er mit mehreren Messerstichen töten.« Ich drucke den Artikel aus und beschließe, der Sache sofort nachzugehen.
Die weiteren Recherchen in Stuttgarter Tageszeitungen führen mich schließlich zu drei versuchten Vergewaltigungen, die von Joachim Mattock auf besonders brutale Weise verübt wurden und mir auch aus einem anderen Grund zu denken geben.
Freitag, 8. November 1991:
Eine 24-jährige Studentin wird überfallartig vom Fahrrad gerissen, als sie auf dem Weg nach Hause einen Feldweg als Abkürzung benutzt. Der Täter zerrt sie an den Haaren in einen Wald und sticht ihr dort mit einem Messer in die Wange. Das Opfer wehrt sich heftig: weint, fleht, schlägt, tritt. Der Mann lässt von der Frau schließlich ab, raubt eine Tasche mit Studienunterlagen und flüchtet.
Donnerstag, 29. Oktober 1992:
Auf einem unbeleuchteten Radweg wird eine 27-jährige Doktorandin vom Fahrrad geschubst. Der Täter hält der Frau ein Messer an den Hals und zwingt sie, mit ihm in ein Gebüsch zu gehen. Das Opfer leistet erheblichen Widerstand und besprüht den Mann mit Reizgas. Der Täter rammt der Frau daraufhin sein Messer ins Gesicht, würgt sie fast bis zur Bewusstlosigkeit, lässt dann aber von ihr ab, greift sich noch den Rucksack des Opfers und verschwindet.
Sonntag, 25. April 1993:
Auf einem einsamen Waldweg wird eine 48-jährige Hausfrau angegriffen. Der Täter
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