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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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hatten. Und als Alexander jetzt über diese Männer sinnierte, merkte er plötzlich, dass er liebend gern seine Freiheit gegen die öffentliche Demütigung in einer dieser Zellen eingetauscht hätte. Aber man würde ihn dort nicht willkommen heißen. Er gehörte nirgendwo mehr hin, weder in seine Welt noch in ihre.
    Er machte die Tür des Fahrkartenschalters zu, schloss hinter sich ab und schaute auf die große Bahnhofsuhr.
    Er steckte die Schlüssel in die Tasche und ging hinaus auf den Bahnsteig. Ein Paar wartete auf den Zug. Er kannte sie vom Sehen, aber nicht mit Namen. Sie winkten ihm zu, und er winkte zurück. Er ging weiter bis zum Ende des Bahnsteigs und sah den Zug näherkommen. Er war pünktlich. Alexander kletterte vom Bahnsteig hinunter, stellte sich mitten auf die Gleise und starrte hinauf in den nächtlichen Himmel.
    Er hoffte, dass seine Eltern dem Brief Glauben schenken würden, den er ihnen hinterlassen hatte. Darin hatte er erklärt, dass er nie über die Enttäuschung hinweggekommen war, kein Langstreckenläufer geworden zu sein. Und dass er sich nie verziehen hatte, seinen Vater enttäuscht zu haben.

Am selben Tag
    Seit vier Jahren versprach Nesterow seiner Familie nun schon bessere Wohnbedingungen, und bis vor kurzem hatte er dieses Versprechen auch regelmäßig wiederholt. Aber jetzt glaubte er selbst nicht mehr daran, dass man ihm eine bessere Behausung zuweisen würde.
    Glaubte nicht mehr daran, dass sich, wenn er nur hart arbeitete und seine Frau hart arbeitete, dies auch in materiellen Vergünstigungen niederschlagen würde.
    Sie wohnten am Stadtrand, in der Kropotkinski-Straße, die nicht weit von den Sägewerken entfernt lag. Die Häuser in dieser Straße hatte man aufs Geratewohl zusammengezimmert, alle waren unterschiedlich groß und sahen verschieden aus. Nesterow verwandte viel seiner freien Zeit auf Heimwerker-Arbeiten, er war ein tüchtiger Schreiner und hatte bereits die Fenster und Türen ausgetauscht. Aber im Laufe der Jahre hatte sich das Fundament gesenkt, so dass die Vorderfront des Hauses sich jetzt in schiefem Winkel vorneigte und die Tür sich nur noch so weit öffnen ließ, bis sie sich im Boden verkeilte.
    Vor einigen Jahren hatte er einen kleinen Raum angebaut, den er als Werkstatt nutzte. Er und seine Frau Inessa tischlerten Stühle und Tische und hielten das Haus in Schuss, soweit es eben ging. Und das taten sie nicht nur für ihre eigene Familie, sondern für alle Leute in der Straße. Man musste ihnen lediglich das Material stellen und vielleicht als freundliche Geste etwas zu essen oder zu trinken vorbeibringen.
    Aber letzten Endes konnte keine Flickschusterei es mit den Unzulänglichkeiten des Anwesens aufnehmen. Es gab kein fließendes Wasser, und der nächste Brunnen lag zehn Minuten weit weg. Dementsprechend gab es auch nur ein Plumpsklo hinterm Haus. Als sie eingezogen waren, war es völlig verdreckt gewesen und schon beinahe in sich zusammengefallen. Die Grube war viel zu flach gewesen, und man hatte es kaum betreten können, ohne dass der Gestank einem Brechreiz verursachte. Nesterow hatte in Tag- und Nachtschichten an einer anderen Stelle ein neues Plumpsklo errichtet, mit soliden Wänden, einer viel tieferen Grube und einem Eimer mit Sägemehl, das man danach drüberstreuen konnte. Trotzdem war ihm bewusst, dass seine Familie nichts von den modernen Errungenschaften an Komfort und Hygiene mitbekam und auch keine Aussicht auf Besserung in Sicht war. Er war jetzt 40 Jahre alt. Sein Gehalt war geringer als das, was viele der etwa Zwanzigjährigen in der Auto-Fabrik verdienten.
    Seine Bemühungen, seiner Familie ein anständiges Heim zu schaffen, hatten zu nichts geführt.
    An der Haustür klopfte es. Es war schon spät. Nesterow war immer noch in Uniform. Er konnte hören, wie Inessa aufmachte. Einen Moment später erschien sie in der Küche. »Es ist jemand für dich. Von der Arbeit. Ich kenne ihn nicht.«
    Nesterow ging in den Flur. Draußen stand Leo. Nesterow wandte sich zu seiner Frau um. »Ich kümmere mich schon darum.«
    »Kommt er herein?«
    »Nein, es dauert nicht lange.« Inessa warf Leo einen Blick zu und ging. Nesterow trat nach draußen und schloss die Tür.
    Leo war den ganzen Weg hierher zu Fuß gelaufen. Die Nachricht von Alexanders Tod hatte ihn jeder Urteilsfähigkeit beraubt. Es war nicht mehr die Enttäuschung und Niedergeschlagenheit, die ihn die ganze Woche über gequält hatten. Er fühlte sich nur noch aus den Angeln gehoben, Teil

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