Kind 44
einer entsetzlichen, absurden Scharade, ein Spieler in einer grotesken Farce. Der naive Träumer, der nach Gerechtigkeit strebt und dabei eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Sein Bemühen, einen Mörder zu fassen, hatte sich in nichts als Blutvergießen verwandelt. Raisa hatte es von Anfang an gewusst, schon im Wald und auch vorgestern Abend.
Sie hatte versucht, ihn zu warnen, und er war einfach weiter vorangeprescht wie ein abenteuerlustiges Kind.
Was kann ich allein schon ausrichten?
Jetzt hatte er seine Antwort: 200 Menschenleben ruiniert, ein junger Mann tot, ein Arzt ebenfalls tot. Der Körper eines jungen Mannes war von einem Zug in zwei Hälften getrennt worden. Das also war die Frucht seiner Mühe. Dafür hatte er sein Leben riskiert. Und Raisas Leben. Das war das Ergebnis seiner Sühne.
»Alexander ist tot. Er hat sich umgebracht. Hat sich vor den Zug geworfen.«
Nesterow ließ den Kopf sinken. »Es tut mir leid, das zu hören. Wir haben ihm die Chance gegeben, sich wieder in den Griff zu bekommen. Aber vielleicht konnte er das nicht. Vielleicht war er zu krank.«
»Wir sind für seinen Tod verantwortlich.«
»Nein, er war krank.«
»Er war erst 22. Er hatte eine Mutter und einen Vater und ging gern ins Kino. Und jetzt ist er tot. Aber das Gute daran ist, wenn wir jetzt noch ein totes Kind finden, können wir es einfach ihm in die Schuhe schieben und den Fall in Rekordzeit lösen.«
»Das reicht.«
»Warum tun Sie das? Am Geld oder irgendwelchen Vergünstigungen kann es ja wohl nicht liegen.« Leo starrte Nesterows windschiefes Haus an.
Der antwortete: »Tjapkin hat sich umgebracht, weil er schuldig war.«
»Sobald wir angefangen haben, diese Männer zu verhaften, hat er doch gewusst, dass wir die Kinder befragen und ihn finden würden.«
»Er hatte die medizinischen Kenntnisse, um zu wissen, wie man einem Kind den Magen herausschneidet. Hinsichtlich des Mordes an dem Mädchen hat er Ihnen gegenüber eine Falschaussage gemacht, um uns zu verwirren. Er war hinterhältig und gerissen.«
»Er hat mir die Wahrheit gesagt. Der Magen des Mädchens war herausgeschnitten. Ihr Mund war mit Rinde vollgestopft. Genauso war der Magen des Jungen herausgeschnitten, und sein Mund war auch voller Rinde.
Sie hatte eine Schnur am Fußgelenk, der Junge auch.
Sie wurden von ein und demselben umgebracht. Und das war weder Doktor Tjapkin noch der junge Warlam Babinitsch.«
»Gehen Sie nach Hause.«
»In Moskau hat es einen Toten gegeben. Ein kleiner Junge namens Arkadi, noch nicht mal fünf Jahre alt. Ich habe seine Leiche nicht selbst gesehen, aber mir wurde gesagt, dass er nackt aufgefunden wurde, mit aufgeschlitztem Bauch, und in seinem Mund steckte irgendein Zeug. Ich vermute, er war mit Rinde vollgestopft.«
»Ach, jetzt gibt es auf einmal einen Mord in Moskau?
Das kommt ja wie gerufen, Leo. Ich glaube Ihnen kein Wort.«
»Ich habe es auch nicht geglaubt. Ich stand vor den trauernden Angehörigen, die behaupteten, ihr Sohn sei ermordet worden, und ich habe es ihnen nicht geglaubt. Ich sagte ihnen, dass es nicht stimme. Wie viele solcher Vorkommnisse sind noch vertuscht worden?
Wir wissen es nicht und können es auch nicht herausfinden. Unser System ist perfekt darauf ausgerichtet, dass dieser Kerl so viele Menschen umbringen kann, wie er will. Und er wird weiter morden, und wir werden immer weiter die falschen Leute einsperren, Unschuldige, Leute, die wir nicht mögen oder mit denen wir nichts zu tun haben wollen. Und er wird immer weitermorden.«
Nesterow traute diesem Mann nicht. Er hatte ihm von Anfang an nicht getraut, und ganz bestimmt würde er sich von ihm nicht irgendwelche kritischen Bemerkungen über den Staat entlocken lassen. Er ließ Leo stehen und griff nach der Haustür.
Leo riss ihn an der Schulter herum, sodass sie sich wieder Auge in Auge gegenüberstanden. Eigentlich hatte er noch etwas vorbringen wollen, den anderen mit Vernunft und Logik überzeugen, aber ihm fiel nichts mehr ein, und so schlug er einfach zu. Es war ein guter Schlag, ein harter Schlag. Nesterows Kopf wurde zur Seite geschleudert. So verharrte er einen Moment, den Kopf zur Seite gelegt. Dann wandte er das Gesicht langsam seinem Untergebenen zu. Leo versuchte, mit fester Stimme zu sprechen: »Wir haben überhaupt nichts aufgeklärt.«
Nesterow haute ihn einfach um. Leo krachte zu Boden und landete auf dem Rücken. Es tat nicht weh. Noch nicht. Nesterow starrte zu ihm hinab und befühlte sein Kinn.
»Gehen Sie
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