Kind 44
kompromittiert. Zur Strafe wurde ich hierher geschickt.«
»Dann sind Sie also tatsächlich ein in Ungnade gefallener Offizier?«
»Ja.«
»Und warum veranstalten Sie dann das hier?«
»Weil drei Kinder ermordet worden sind.«
»Sie glauben nicht, dass Warlam Larissa umgebracht hat, weil Sie sich sicher sind, dass Larissa nicht das erste Opfer dieses Mörders war, habe ich recht?«
»Larissa war bestimmt nicht sein erstes Opfer. Jedenfalls kann ich es mir nicht vorstellen. Der hat das schon öfter gemacht. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass der Junge in Moskau auch nicht sein erstes Opfer war.«
»Hier in dieser Stadt war Larissa das erste Kind. Das ist die Wahrheit. Ich kann es beschwören.«
»Der Mörder wohnt nicht in Wualsk. Die Morde sind in der Nähe des Bahnhofs geschehen. Er reist.«
»Er reist? Und er bringt Kinder um? Was für ein Mann würde so was machen?«
»Keine Ahnung. Aber in Moskau gibt es eine Frau, die ihn gesehen hat. Zusammen mit dem Opfer. Eine Augenzeugin, die den Mann beschreiben kann. Und wir brauchten die Akten über seine Taten aus allen Städten zwischen Swerdlowsk und Leningrad.«
»Aber die Akten sind nicht zentral erfasst.«
»Deshalb müssen Sie auch in jede Stadt fahren und einzeln alle Akten zusammensuchen. Sie müssen Ihre Kollegen überzeugen, und wenn sie sich weigern, dann müssen Sie eben mit den Leuten reden, die dort wohnen.«
Es war eine geradezu haarsträubende Idee. Eigentlich zum Lachen. Stattdessen fragte Nesterow: »Warum sollte ich das für Sie tun?«
»Nicht für mich. Sie haben doch selbst gesehen, was er den Kindern antut. Tun Sie es für die Menschen um uns herum. Unsere Nachbarn, die Leute, die neben uns im Zug sitzen. Tun Sie es für all die Kinder, die wir noch nicht einmal kennen und nie kennenlernen werden. Ich selbst habe nicht die Befugnis, nach diesen Akten zu fragen. Ich kenne auch niemanden in der Miliz. Sie schon. Sie kennen die Kollegen, und die vertrauen Ihnen. Sie kommen an die Akten heran. Sie müssen nach den Fällen ermordeter Kinder suchen, aufgeklärten ebenso wie unaufgeklärten. Es existiert ein Muster: der mit Rinde vollgestopfte Mund und der fehlende Magen. Die Leichen sind wahrscheinlich alle irgendwo im Freien gefunden worden: in Wäldern, an Flüssen, vielleicht in der Nähe von Bahnhöfen. Sie haben Schnur um die Fußgelenke.«
»Und wenn ich nichts finde?«
»Wenn ich schon durch Zufall über drei gestolpert bin, dann gibt es garantiert noch mehr.«
»Ich würde ein großes Risiko eingehen.«
»Allerdings. Und Sie würden lügen müssen. Sie könnten niemandem den wahren Grund verraten, nicht mal Ihren eigenen Leuten. Sie könnten niemandem vertrauen. Und als Dank für Ihre Tapferkeit könnten Ihre Frau und die Kinder im Gulag enden und Sie unter der Erde. So sieht mein Angebot aus.«
Leo streckte über den Tisch hinweg die Hand aus.
»Werden Sie mir helfen?«
Nesterow ging zum Fenster und blieb neben seiner Frau stehen. Sie sah ihn nicht an, sondern ließ nur den Wodka auf dem Grund ihres Glases kreisen. Würde er seine Familie und sein Heim riskieren, alles, wofür er gearbeitet hatte?
»Nein.«
Südöstliche Rostower Oblast
Westlich der Stadt Gukowo
2. April
Petja war schon vor Sonnenaufgang wach. Er saß auf der kalten Steintreppe ihres Bauernhauses und wartete ungeduldig darauf, dass die Sonne aufging, damit er seine Eltern um Erlaubnis fragen konnte, in die Stadt zu gehen. Nach Monaten des Sparens hatte er nun genug Geld, um sich noch eine Marke zu kaufen, und damit wäre er auf der letzten Seite seines Albums angelangt. Zu seinem fünften Geburtstag hatte ihm sein Vater den ersten Satz Briefmarken geschenkt. Petja hatte sie sich zwar nicht gewünscht, aber dann hatte er doch Gefallen an diesem Steckenpferd gefunden. Erst zögerlich und dann immer beharrlicher hatte er es verfolgt, bis er davon besessen gewesen war. In den letzten beiden Jahren hatte er auch Briefmarken von anderen Familien aus der Kolchose gesammelt, dem Bauernkollektiv Nr. 12, dem Hof, dem seine Eltern zugewiesen worden waren. Er hatte sogar Zufallsbekanntschaften in der nächstgelegenen Stadt Gukowo angesprochen in der Hoffnung, dass sie ihm ihre Briefmarken überlassen würden. Als seine Sammlung angewachsen war, hatte er sich ein billiges Pappalbum gekauft, in das er die Marken fein säuberlich einklebte. Er verwahrte es in einer Holzkiste, die sein Vater ihm gebastelt hatte, damit den Marken nichts passierte. Die Kiste war
Weitere Kostenlose Bücher