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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Glas und könne zerbrechen. So stand die Familie beieinander, umgeben von feindseligen Gesichtern: Warum benahmen diese Leute sich so komisch? Was stimmte nicht mit ihnen? Efim flüsterte: »Lasst uns fahren.«
    Sie drängten sich durch die Menge, klaubten eilig ihre Sachen zusammen und liefen zum Wagen. Am Rand des Feldwegs standen nur noch vier weitere Autos, alle anderen Badegäste waren mit dem Zug gekommen.
    Nesterow startete den Motor und fuhr los.
    ***
    Vom Strand aus sah eine dünne Frau mit grau melierten Haaren dem sich entfernenden Wagen hinterher. Sie hatte sich bereits das Nummernschild notiert. Denn sie fand, dass man dieser Familie einmal auf den Zahn fühlen musste.

Moskau
5. Juli
    Wäre Leo bis zum Vortag verhaftet worden, hätte es nichts gegeben, was Raisa mit diesen eigenmächtigen Nachforschungen in Verbindung bringen konnte. Sie hätte ihn denunzieren können und vielleicht eine Chance gehabt zu überleben. Damit war es jetzt vorbei. Mit falschen Papieren saßen sie in einem Zug und näherten sich Moskau. Sie war mitschuldig.
    Warum war Raisa mit Leo in den Zug gestiegen? Das entsprach doch überhaupt nicht ihrem Grundprinzip: überleben! Sie nahm ein unkalkulierbares Risiko auf sich, obwohl sich ihr eine Alternative bot. Sie hätte in Wualsk bleiben und einfach gar nichts tun können. Um ganz sicherzugehen, hätte sie Leo sogar denunzieren und darauf hoffen können, dass dieser Verrat ihr die Zukunft sicherte. Es war eine besonders unerfreuliche Strategie, heuchlerisch und widerlich. Aber um zu überleben, hatte sie in ihrem Leben schon viele unerfreuliche Dinge getan, einschließlich der Heirat mit Leo, einem Mann, den sie verabscheut hatte. Was hatte sich denn geändert? Um Liebe ging es jedenfalls nicht. Leo war zwar jetzt ihr Partner, aber nicht im engeren ehelichen Sinne. Sie waren Partner bei ihren Nachforschungen. Er vertraute ihr, hörte auf sie, und nicht etwa aus Höflichkeit, sondern weil er sie als ebenbürtig betrachtete. Sie waren Bundesgenossen mit einem gemeinsamen Ziel, vereint durch etwas, was wichtiger war als ihrer beider Leben. Raisa fühlte sich energiegeladen und erregt. Um keinen Preis wollte sie ihr früheres, abhängiges Leben zurück, in dem sie sich stets gefragt hatte, wie viel sie von ihrer Seele würde preisgeben müssen, um zu überleben.
    Der Zug hielt am Jaroslawer Bahnhof. Leo wusste nur zu gut, was es bedeutete, dass sie genau hierhin zurückkehrten, zu ebenjenen Gleisen, auf denen man Arkadis Leiche gefunden hatte. Zum ersten Mal seit ihrer Verbannung vor vier Monaten waren sie wieder in Moskau. Offiziell hatten sie hier nichts zu suchen. Ihr Leben und ihre Ermittlungen hingen davon ab, dass sie unentdeckt blieben. Wenn man sie fasste, würden sie sterben. Der Grund für dieses Wagnis war Galina Schaporina, eine Frau, die den Mörder gesehen hatte. Eine Augenzeugin, die den Mann beschreiben konnte, sein Alter angeben, ihm eine Gestalt verleihen und ihn damit greifbar machen konnte. Im Augenblick hatten weder Leo noch Raisa irgendeine Vorstellung, nach was für einem Mann sie überhaupt suchen sollten. War er alt oder jung, schlank oder dick, abgerissen oder gut angezogen? Sie hatten nicht die leiseste Ahnung. Jeder hätte es sein können.
    Raisa hatte vorgeschlagen, dass sie nicht nur mit Galina sprachen, sondern auch mit Iwan, ihrem Kollegen aus der Schule. Der hatte viele zensierte westliche Texte gelesen und kam an schwer zugängliche Veröffentlichungen heran – Zeitschriftenartikel, Zeitungen, unerlaubte Übersetzungen. Vielleicht kannte er ja Fallstudien über vergleichbare Verbrechen im Ausland: über willkürliche Serienmorde, Ritualmorde. Raisa selbst hatte nur ganz oberflächlich von solchen Verbrechen gehört. Da gab es einen Amerikaner namens Albert Fish, der Kinder getötet und aufgegessen hatte. Sie hatte auch Geschichten über einen Franzosen gehört, Doktor Pettiot, der zur Zeit des Großen Vaterländischen Krieges Juden unter dem Vorwand, sie in Sicherheit zu bringen, in seinen Keller gelockt, dort getötet und dann verbrannt hatte. Raisa konnte nicht sagen, ob das alles nur sowjetische Propaganda über den Verfall der westlichen Zivilisation war, in der die Mörder als Produkt einer maroden Gesellschaft und einer perversen Politik dargestellt wurden. Aus dem Blickwinkel ihrer Ermittlungen war eine solche deterministische Theorie sinnlos. Sie hätte ja bedeutet, dass der Gesuchte nur ein Ausländer sein konnte, ein Mensch, dessen Charakter

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