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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Unterhaltung. Nach acht Wochen hatte Nesterow noch kein einziges Verbrechen ausgegraben, das als ungeklärt galt. Das war der Moment gewesen, Leo in sein Büro zu rufen.
    Leo hatte das Büro betreten, die Tür geschlossen und sich hingesetzt. Nesterow hatte sicherheitshalber noch einmal in den Flur gespäht, war dann zurückgekehrt, hatte die Bürotür verriegelt und unter seinen Schreibtisch gegriffen. Er hatte eine Karte der Sowjetunion hervorgeholt, sie auf dem Schreibtisch ausgebreitet und die Ecken mit Büchern beschwert. Dann hatte er sich eine Handvoll Stecknadeln genommen. Zwei Nadeln hatte er bei Wualsk in die Karte gesteckt, zwei Nadeln bei Molotow, zwei bei Wjatka, zwei in Gorki und zwei in Kasan. Die Stecknadeln beschrieben eine Linie von Städten, die der Eisenbahnlinie westwärts in Richtung Moskau folgte. In Moskau selbst war Nesterow nicht gewesen, die Beamten der dortigen Miliz hatte er gemieden aus Furcht, dass sie bei jeder Art von Erkundigung misstrauisch werden würden. Westlich von Moskau hatte Nesterow nur noch wenige Informationen sammeln können, aber immerhin einen möglichen Vorfall in Twer gefunden. Weiter südlich steckte er drei Stecknadeln bei Tula ein, zwei bei Orel und zwei bei Belgorod. Für die Ukraine nahm Nesterow sich wieder die Schachtel mit den Nadeln und schüttete sich mindestens zwanzig in die Hand. Dann machte er weiter: zwei Nadeln in Taganrog, zwei in Saporoschje, drei in Kramatorsk, eine in Kiew. Beim Rückweg aus der Ukraine dann noch fünf Stecknadeln in Taganrog und schließlich sechs Nadeln in Rostow.
    Nesterow verstand Leos Reaktion – fassungsloses Schweigen. Ihn selbst hatte das Zusammentragen dieser Informationen in einen ähnlichen Gemütszustand versetzt. Anfangs hatte er noch versucht, die Ähnlichkeiten abzutun: das zerkleinerte Zeug, das man den Kindern in den Mund geschoben hatte, das manche Beamte als Erde bezeichneten, andere als Dreck. Die verstümmelten Körper. Aber die Übereinstimmungen waren einfach zu auffällig. Immer Schnur um die Fußgelenke, alle Leichen nackt, die Kleider auf einem Häuflein etwas weiter weg deponiert. Der Tatort lag immer in einem Wald oder Park, oft in der Nähe eines Bahnhofs. Nie waren es häusliche Verbrechen, und immer waren sie im Freien geschehen. Nicht eine einzige Stadt hatte mit einer anderen kommuniziert, obwohl manche Verbrechen weniger als 50 Kilometer voneinander entfernt geschehen waren. Man war keinerlei Verbindungen nachgegangen, die diese Stecknadeln miteinander in Beziehung hätten setzen können. Man hatte die Morde aufgeklärt, indem man sie Betrunkenen, Dieben oder verurteilten Vergewaltigern in die Schuhe geschoben hatte – unerwünschten Personen, denen man jeden Verdacht hätte anhängen können.
    Nesterow hatte bislang 43 Fälle gezählt. Jetzt beugte er sich vor, nahm noch eine Stecknadel aus der Schachtel und steckte sie mitten in Moskau ein. Arkadi war Kind Nr. 44.
    ***
    Nesterow wachte mit offenem Mund auf und stellte fest, dass er mit dem Gesicht im Sand lag. Er richtete sich auf, wischte sich den Sand ab. Die Sonne hatte sich hinter einer Wolke verborgen. Er schaute sich nach seinen Kindern um, suchte den Strandabschnitt ab, auf dem Leute spielten. Sein ältester Sohn, der siebenjährige Efim, hockte am Wasserrand. Aber seinen Jüngsten, der erst fünf war, konnte er nirgendwo entdecken.
    Nesterow wandte sich an seine Frau, die gerade fürs Mittagessen Trockenfleisch in Streifen schnitt. »Wo ist Vadim?«
    Inessa sah auf. Ihren ältesten Sohn entdeckte sie sofort, aber wo war der Kleine? Noch mit dem Messer in der Hand stand sie auf, wandte sich um und suchte den Bereich hinter ihnen ab. Als sie den Jungen nicht sah, ließ sie das Messer fallen. Beide liefen sie zu Efim und knieten sich zu beiden Seiten neben ihn.
    »Wo ist dein Bruder?«
    »Er hat gesagt, dass er zu euch zurückwollte.«
    »Wann?«
    »Weiß nicht.«
    »Denk nach!«
    »Noch nicht lange her. Ich weiß nicht genau.«
    »Wir haben euch doch gesagt, ihr sollt zusammenbleiben.«
    »Aber er hat gesagt, dass er zu euch zurückwill.«
    »Ist er nicht ins Wasser gegangen?«
    »Er ist da lang gegangen, in eure Richtung.«
    Nesterow stand wieder auf und spähte hinaus aufs Wasser. Vadim war nicht ins Wasser gegangen, er hatte nicht schwimmen wollen. Also war er irgendwo auf dem Strand, irgendwo zwischen diesen Hunderten von Leuten. Bilder aus den Kriminalakten stiegen vor Nesterows innerem Auge auf. Ein junges Mädchen hatte man nicht

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