Kind 44
wiederzusehen, schnürte ihm die Luft ab. Ihre Liebe, ihre wiedergeborene Ehe, die sie erst vor zwei Stunden vollzogen hatten, war vorbei.
»Leo?«
Was würde Raisa wollen? Sie würde nicht wollen, dass er sentimental wurde. Sie würde wollen, dass er es zu Ende brachte, dass er entkam, dass er auf diesen Mann hörte.
»Leo?«
»Na gut. Wie sieht Ihr Plan aus?«
Nesterow fuhr fort und fasste noch einmal den ersten Teil des Plans zusammen.
»Sie schlagen mich also mit meiner Waffe nieder, so heftig, dass ich bewusstlos bin. Dann verlassen Sie das Büro, gehen ein Stockwerk tiefer und verstecken sich in einem der Büros rechts vom Treppenhaus. Verstecken Sie sich nur da. Dann warten Sie, bis die Agenten das Gebäude betreten haben. Auf dem Weg hierher kommen sie an Ihnen vorbei. Sobald sie durch sind, laufen Sie runter ins Erdgeschoss und kriechen durch eins der Hinterfenster. Da steht ein Wagen bereit. Hier sind die Schlüssel. Die haben Sie mir natürlich geklaut.
Sie müssen sofort aus der Stadt raus. Suchen Sie nach niemandem und halten Sie auf keinen Fall an, egal aus welchem Grund! Fahren Sie einfach. Sie haben einen kleinen Vorteil. Die werden glauben, dass Sie zu Fuß unterwegs und deshalb noch irgendwo in der Stadt sind. Bis die merken, dass Sie sich ein Auto geschnappt haben, müssten Sie eigentlich frei sein.«
»Frei wofür?«
»Diese Verbrechen aufzuklären.«
»Meine Fahrt nach Moskau war eine Pleite. Die Augenzeugin wollte nichts sagen. Ich habe immer noch keine klarere Vorstellung davon, wer dieser Mann ist.«
Das hatte Nesterow nicht erwartet. Trotzdem antwortete er: »Leo, Sie können es schaffen. Ich weiß es. Ich glaube an Sie. Sie müssen nach Rostow am Don fahren.
Dort liegt das Zentrum der Verbrechen. Ich bin überzeugt, da müssen Sie suchen. Es gibt ein paar Theorien darüber, wer diese Kinder ermordet. Eine besagt, dass es da eine Gruppe von Nazis ...«
»Nein, es ist das Werk eines Einzelnen. Er macht das auf eigene Faust. Er hat Arbeit. Nach außen hin wirkt er normal. Wenn Sie sich sicher sind, dass es in der Gegend von Rostow eine Konzentration dieser Morde gab, dann ist es wahrscheinlich, dass er dort lebt und arbeitet. Seine Arbeit ist das Bindeglied zu all den verschiedenen Tatorten. Seine Arbeit hat mit Reisen zu tun. Er mordet, wenn er unterwegs ist. Wenn wir wissen, was er macht, dann haben wir ihn.«
Leo sah auf die Uhr. Es blieben ihm nur noch Minuten, bevor er verschwinden musste. Nesterow legte zwei Finger auf die beiden Städte, um die es ging. »Was verbindet Rostow und Wualsk? Östlich von Wualsk hat es keine Morde gegeben, jedenfalls keine, von denen wir wüssten. Das legt nahe, dass hier der Endpunkt ist, der Zielort.«
Leo stimmte zu. »Wualsk hat die Auto-Fabrik. Sonst gibt es keine nennenswerte Industrie hier, höchstens die Sägewerke. Aber in Rostow gibt es viele Fabriken.«
Nesterow kannte beide Orte besser als Leo. »Die Automobilfabrik und Rostelmasch haben enge Verbindungen.«
»Diese Traktorenfabrik?«
»Ja, die größte in der UdSSR.«
»Nutzt der eine Komponenten des anderen?«
»Die Reifen des GAZ-20 kommen von dort und im Gegenzug werden Motorteile in den Süden geliefert.«
War das vielleicht die Verbindung? Die Morde verliefen entlang der Eisenbahnlinien aus dem Süden und dann nach Westen, von einem Ende bis zum anderen. Leo hielt die Theorie für plausibel.
»Wenn GAZ Bauteile an die Rostelmasch-Fabrik liefert, dann wird doch Rostelmasch einen Tolkatsch beschäftigen. Jemanden, der hierherkommt und sicherstellt, dass Wolga seinen Lieferverpflichtungen auch nachkommt.«
»Hier oben hat es nur zwei Kindermorde gegeben, und die sind erst kürzlich passiert. Aber die Fabriken arbeiten schon geraume Zeit zusammen.«
»Die Morde im Norden des Landes sind die jüngsten.
Das bedeutet, er hat diese Arbeit erst vor kurzem aufgenommen. Oder er wird erst seit kurzem auf dieser Route eingesetzt. Wir müssen an die Personalakten von Rostelmasch herankommen. Wenn wir recht haben und die Akten mit den Tatorten der Morde abgleichen können, dann haben wir ihn.«
Sie waren nah dran. Wenn man sie nicht gejagt hätte, wenn sie die Freiheit gehabt hätten, nach ihrem Gutdünken zu handeln, dann hätten sie den Namen bis zum Ende der Woche identifiziert. Aber weder hatten sie eine Woche noch die Unterstützung des Staates. Sie hatten nur vier Minuten. Es war elf nach neun. Leo musste los. Er nahm sich eines der Dokumente, die Liste der Morde mit ihren
Weitere Kostenlose Bücher