Kind 44
schweres, ledernes Halfter mit der Pistole aus, ließ beides zu Boden fallen und trat auf den zugefrorenen Fluss hinaus. Seine Schuhsohlen rutschten auf dem Eis. Sofort begann es zu ächzen. Er bewegte sich weiter vor und versuchte dabei, sich möglichst leicht zu machen, aber das Eis splitterte, und er merkte, wie es unter seinem Gewicht nachgab. Als er die Flussmitte erreicht hatte, kauerte er sich hin und wischte hektisch den Schnee weg. Aber der Verdächtige war nirgendwo zu sehen – nichts als dunkles Wasser. Leo bewegte sich weiter flussabwärts, aber die Bruchkanten jagten seinen Schritten hinterher, umkreisten ihn von allen Seiten. Das Wasser begann anzuschwellen, die Risse trafen sich. Leo blickte hinauf zum Himmel, füllte seine Lungen und nahm alle Kraft zusammen, als er ein Knacken hörte. Das Eis brach ein.
Obwohl er wegen der Amphetamine in seinem Körper gar nicht die ganze Wucht der Kälte spürte, wusste Leo, dass er sich schnell bewegen musste. Bei diesen Temperaturen hatte er nur Sekunden. Er wirbelte herum. An den zwei Stellen, wo das Eis gebrochen war, fielen Lichtstrahlen herein, aber dahinter war das Wasser dunkel, von der Sonne durch die Schneedecke abgeschirmt. Er stieß sich vom Grund ab und schwamm flussabwärts. Ohne etwas zu sehen, schwamm er immer weiter, blind nach links und rechts tastend. Sein Körper schrie nach Luft. Als Reaktion darauf beschleunigte er seine Bewegungen, tauchte mit noch kräftigeren Zügen und Stößen durch das Wasser. Bald würde er nur noch die Wahl haben, entweder umzukehren oder zu sterben. Dann fiel ihm ein, dass er keine zweite Chance bekommen würde und es, wenn er mit leeren Händen zurückkehrte, möglicherweise auch seine Exekution bedeutete. Er machte einen weiteren kräftigen Zug flussabwärts.
Seine Hand streifte etwas. Irgendein Material, Stoff, ein Hosenbein. Es war Brodsky, reglos unter dem Eis. Aber als ob Leos Berührung ihn wieder zum Leben erweckt hätte, fing er jetzt an zu kämpfen. Leo schwamm unter ihn und umklammerte seinen Hals. Seine Brust schmerzte heftig. Er musste irgendwie wieder an die Oberfläche. Den Hals des Verdächtigen mit einem Arm umklammernd, versuchte er, das Eis über ihm zu durchstoßen, aber die Schläge glitten an der glatten, harten Oberfläche ab.
Brodsky bewegte sich nicht mehr, kämpfte nicht mehr.
Er konzentrierte sich, widersetzte sich jedem Impuls seines Körpers. Er öffnete den Mund und füllte seine Lungen mit dem eiskalten Wasser, hieß reglos den Tod willkommen.
Leo konzentrierte sich auf die Sonnenstrahlen weiter flussaufwärts. Mit kräftigen Stößen schob er sie beide vorwärts, hin zum Licht. Sein Gefangener war bewusstlos. Leo wurde schwindelig. Er konnte die Luft nicht länger anhalten. Noch ein Stoß – er fühlte Sonnenlicht auf dem Gesicht, wurde nach oben gedrückt und die beiden Männer durchbrachen die Wasseroberfläche.
Leo japste nach Luft, immer wieder. Aber Brodsky atmete nicht. Leo kämpfte sich durch die zerborstenen Eisklumpen, zerrte ihn ans Ufer. Seine Füße fanden Grund. Er zog sich das Ufer hinauf und zerrte seinen Gefangenen mit sich. Beider Haut war blassblau angelaufen. Leo konnte das Zittern nicht unterdrücken. Der Gesuchte dagegen lag vollkommen reglos da. Leo öffnete den Mund des Mannes, ließ das Wasser auslaufen und blies ihm Luft in die Lungen. Er pumpte dessen Brustkorb, blies ihm Luft in die Lungen, pumpte den Brustkorb, Luft in die Lungen. »Komm schon.«
Hustend und spuckend kam Brodsky wieder zu sich, krümmte sich und erbrach das eiskalte Wasser aus seinem Magen. Aber Leo hatte keine Zeit, darüber erleichtert zu sein. In ein paar Minuten würden sie an Unterkühlung sterben. In der Ferne sah er seine drei Agenten näher kommen.
Die Männer hatten gesehen, wie Leo im Fluss verschwunden war, und ihnen war klar geworden, dass ihr Vorgesetzter die ganze Zeit über recht gehabt hatte. Im Bruchteil einer Sekunde verlagerte sich das Machtgefüge wieder von Wassili weg und zurück zu Leo. Ihre Verstimmung darüber, wie er Fjodor behandelt hatte, war wie weggeblasen. Ohnehin hatten sie nur gewagt, ihre Empfindungen durchscheinen zu lassen, weil sie erwartet hatten, dass die Operation scheitern und Leo seiner Macht beraubt werden würde. Das war aber nicht der Fall. Seine Position würde stärker als je zuvor sein. Sie rannten, so schnell sie konnten. Ihr Leben hing davon ab.
Leo sank neben dem Gefangenen zu Boden. Dem fielen die Augen zu, er verlor langsam wieder
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