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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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drückte. Alle sahen zu, außer den beiden Mädchen, die die Augen gesenkt hatten und auf den Tod warteten.
    Sehr langsam wandte Wassili den Kopf und schaute hoch. Sein Mund zitterte vor Erniedrigung. Er hatte Angst vor dem Tod. Derselbe Mann, dem der Tod anderer Menschen so gleichgültig war. Leos Finger berührte den Abzug. Aber er konnte es nicht tun. Nicht kaltblütig. Er würde nicht den Scharfrichter dieses Mannes spielen. Sollte der Staat ihn bestrafen. Er vertraute auf den Staat. Er schob seine Waffe zurück ins Halfter. »Du bleibst hier und wartest auf die Miliz. Du erklärst ihnen, was passiert ist, und hilfst ihnen. Und dann sieh zu, wie du wieder nach Moskau kommst.«
    Leo half den beiden Mädchen auf die Beine und brachte sie ins Haus.
    Drei Agenten waren nötig, um Brodsky auf die Ladefläche des Lasters zu schaffen. Sein Körper war so schlaff, als sei alles Leben aus ihm gewichen. Er murmelte unverständliche Worte, verrückt vor Kummer und ohne auf die Beamten zu achten, die ihm bedeuteten, er solle sein Maul halten. Sie wollten sich nicht den ganzen Weg nach Moskau sein Gejammer anhören.
    Die Mädchen im Haus sagten keinen Ton. Sie konnten immer noch nicht fassen, dass die Toten da draußen im Schnee ihre Eltern waren. Jeden Moment rechneten sie damit, dass ihr Vater hereinkam und ihnen Frühstück machte oder ihre Mutter vom Feld zurückkehrte. Es war alles so unwirklich. Ihre Eltern waren ihre ganze Welt.
    Wie konnte es eine Welt geben ohne sie?
    Leo fragte sie, ob sie noch Verwandte hätten. Beide schwiegen. Er wies die Ältere an zu packen, sie würden nach Moskau fahren. Aber keine der beiden rührte sich.
    Also ging er ins Schlafzimmer und packte für sie, suchte nach ihren Sachen, ihren Kleidern. Seine Hände fingen an zu zittern. Er hielt inne, setzte sich aufs Bett und schaute auf seine Stiefel hinab. Dann legte er die Hacken zusammen und sah stumpfsinnig zu, wie schmale, blutgetränkte Schneekrusten zu Boden fielen.
    Wassili rauchte seine letzte Zigarette und beobachtete vom Straßenrand aus, wie der Laster abfuhr. Er erhaschte einen Blick auf die beiden Mädchen, die in der Fahrerkabine neben Leo saßen, wo eigentlich er hätte sitzen sollen. Der Laster wendete und verschwand die Straße hinab. Wassili blickte sich um. Hinter den Fenstern der näher gelegenen Bauernhäuser kamen Gesichter zum Vorschein, diesmal schraken sie nicht zurück.
    Zum Glück hatte er noch sein Maschinengewehr. Er ging zurück ins Haus und warf dabei einen flüchtigen Blick auf die Toten, die da im roten Schnee lagen. In der Küche machte er sich einen Tee. Er war stark und Wassili süßte ihn mit Zucker. In diesem Haushalt gab es ein kleines Töpfchen Zucker, das vermutlich einen Monat lang hätte reichen sollen. Wassili schüttete fast den gesamten Inhalt in sein Glas und gönnte sich ein dekadentes Vergnügen. Er schlürfte seinen Tee und wurde plötzlich müde. Also legte er die Stiefel und die Jacke ab, ging ins Schlafzimmer, zog die Decken zurück und legte sich hinein. Er hätte sich gewünscht, dass man sich seine Träume selbst aussuchen könnte. Wassili wollte einen Rachetraum.

Moskau
16. Februar
    Obwohl es nun schon seit fünf Jahren seine Arbeitsstätte war, hatte Leo sich in der Lubjanka, dem MGB-Hauptquartier für Innere Angelegenheiten, nie wohl gefühlt. Eine zwanglose Unterhaltung war hier unmöglich. Alle waren stets auf der Hut. Wenn man bedachte, in welchem Gewerbe sie sich tummelten, war das nicht weiter verwunderlich, aber Leo kam es so vor, als strahle schon das Gebäude selbst etwas aus, das die Leute verunsicherte, so als sei die Angst fester Bestandteil der Architektur. Theoretisch wusste er, dass das Blödsinn war, weil der Bau ja aus vorrevolutionärer Zeit stammte und ein ganz normales Versicherungsbüro beherbergt hatte, bevor er vom sowjetischen Geheimdienst requiriert worden war. Trotzdem fragte er sich, ob es wirklich bloßer Zufall war, dass sie ausgerechnet hier gelandet waren, in einem Gebäude, das einen schon durch seine schieren Proportionen – weder hoch noch niedrig, weder breit noch schmal, irgendwie ein seltsames Mittelding – einschüchterte. Die Fassade erweckte den Eindruck totaler Überwachung: Dicht an dicht standen die Fenster, eine Reihe über der anderen, und über allem eine einsame weiße Uhr, die über die Stadt wachte wie ein schimmerndes Auge. Um das Gebäude herum schien eine unsichtbare Grenze zu verlaufen, denn Passanten hielten stets gehörigen

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