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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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auch nur am Leben bleiben, das konnte man ihr nicht verübeln. Außerdem spielte das jetzt auch keine Rolle mehr. Jetzt war nur noch wichtig, seine Häscher davon zu überzeugen, dass Michail sich keinerlei Kollaboration schuldig gemacht hatte.
    »Als ich hier gestern Abend angekommen bin, hat die Familie mir gesagt, ich solle verschwinden. Sie wollten nichts mit mir zu tun haben. Haben sogar damit gedroht, die Miliz zu holen. Nur deshalb war ich gezwungen, in die Scheune einzubrechen. Diese Familie hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Es sind brave Leute, fleißige Leute.«
    Leo versuchte sich vorzustellen, was am Abend zuvor wirklich passiert war. Der Verräter hatte seinen Freund um Hilfe gebeten, aber die hatte man ihm nicht gewährt. Nicht gerade ein ausgefeilter Fluchtplan. Auf keinen Fall einer für einen professionellen Spion. »Ihre Freunde interessieren mich nicht.«
    Sie kamen in die Nähe des Hofes. Unmittelbar vor ihnen, vor dem Scheunentor, knieten in einer Reihe Michail Zinowjew, seine Frau und die beiden kleinen Töchter. Die Hände hatte man ihnen auf den Rücken gefesselt. Vor Eiseskälte zitterten sie im Schnee. Es war offensichtlich, dass sie schon eine ganze Weile so da hockten. Michails Gesicht war lädiert, aus seiner zertrümmerten Nase tropfte Blut. Sein Kiefer stand seltsam schief, vielleicht war er gebrochen. Unschlüssig umringten die Agenten die Knienden. Wassili stand unmittelbar hinter der Familie. Leo blieb stehen und wollte gerade etwas sagen, als Wassili die überkreuzten Arme öffnete und seine Pistole zum Vorschein kam.
    Er richtete die Mündung auf Zinowjews Hinterkopf und feuerte. Ein Knall. Der Mann fiel vornüber in den Schnee. Die Frau und die Kinder rührten sich nicht, starrten nur auf die Leiche vor ihnen.
    Nur Brodsky reagierte. Ein Schrei entfuhr ihm, der nichts Menschliches an sich hatte – eine Mischung aus Leid und Zorn. Wassili machte einen Schritt zur Seite und legte seine Waffe auf den Hinterkopf der Frau an.
    Leo hob die Hand. »Die Pistole runter. Das ist ein Befehl.«
    »Das sind Verräter. Wir müssen ein Exempel statuieren.« Wassili drückte den Abzug, seine Hand schlug zurück und ein zweiter Schuss peitschte. Die Frau fiel neben ihrem Mann in den Schnee. Brodsky versuchte sich loszureißen, er schrie immer noch, aber die beiden Agenten, die ihn bewachten, traten ihm in die Kniekehlen. Wassili machte einen weiteren Schritt seitwärts und zielte nun auf den Kopf der älteren Tochter. Ihre Nase war von der Kälte ganz rot, der Körper zitterte unmerklich. Sie starrte auf die Leiche ihrer Mutter. Sie würde hier im Schnee neben ihren Eltern sterben. Leo zog seine Pistole und richtete sie auf seinen Stellvertreter.
    »Runter mit der Waffe!« Plötzlich war alle Müdigkeit wie weggeblasen, und nicht wegen eines Narkotikums.
    Seine Hand war ruhig. Er schloss ein Auge und zielte sorgfältig. Aus dieser Entfernung konnte er ihn nicht verfehlen. Wenn er jetzt schoss, würde das Mädchen am Leben bleiben. Beide Mädchen würden am Leben bleiben. Sie würden nicht ermordet werden. Er wusste nicht, wieso, aber plötzlich war das Wort in seinem Kopf: Ermordet. Er spannte den Hahn.
    Wassili war mit Kiew auf dem Holzweg gewesen. Er hatte sich von Brodskys Brief an der Nase herumführen lassen. Er hatte den anderen Männern eingeredet, dass es Zeitverschwendung war, nach Kimow zu fahren. Er hatte angedeutet, dass, wenn die Sache heute schiefging, er der neue Chef sein würde. All diese peinlichen Fehler würden in Leos Bericht stehen. Wassili merkte, wie die anderen ihn ansahen. Sein Status hatte einen demütigenden Rückschlag erlitten. Ein Teil von ihm wollte, dass Leo den Mumm hatte, ihn zu töten. Das würde üble Folgen haben. Aber er war kein Narr. Tief drinnen wusste er, dass er ein Feigling war, und ebenso gut wusste er, dass Leo keiner war. Wassili ließ die Waffe sinken. Er tat, als sei er zufrieden, und deutete auf die beiden Kinder. »Die Mädchen haben eine wertvolle Lektion erhalten. Vielleicht werden sie eines Tages bessere Bürger sein als ihre Eltern.«
    Leo marschierte auf seinen Stellvertreter zu. Als er an den beiden Leichen vorbeikam, hinterließ er einen Fußstapfen im blutigen Schnee. Er holte rasch aus und schlug Wassili die Kante seiner Waffe an den Schädel.
    Wassili wich zurück und hielt sich den Kopf. Er hatte eine Platzwunde und blutete. Noch bevor er sich wieder aufrichten konnte, spürte er, wie Leo ihm seine Waffe an die Schläfe

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