Kind 44
Abstand, als fürchteten sie, hineingezerrt zu werden. Wer diese Grenze übertrat, war entweder hier angestellt oder verdammt. Innerhalb dieser Mauern war es unmöglich, für unschuldig befunden zu werden. Es war ein Verurteilungs-Fließband. Vielleicht hatte man beim Bau der Lubjanka die Angst nicht im Sinn gehabt, aber die Angst hatte sich ihrer bemächtigt. Die Angst hatte dieses frühere Versicherungsgebäude zu ihrem Zuhause, ihrer Botschaft gemacht.
Leo zeigte seinen Dienstausweis vor. Dieser erlaubte ihm nicht nur, das Gebäude zu betreten, sondern vor allem auch, es wieder zu verlassen. Männer und Frauen, die ohne einen solchen Ausweis durch diese Pforte kamen, wurden oft nie mehr wiedergesehen.
Das System brachte sie in die Gulags oder vielleicht auch in ein anderes Haus, das direkt hinter diesem an der Warsonofjewski-Gasse lag. Auch dies war ein Gebäude der Staatssicherheit, mit abgeschrägten Fußböden, holzverkleideten Wänden, die die Kugeln abfingen, und Schläuchen, mit denen man die Bäche von Blut wegspritzen konnte. Was die Hinrichtungsrate betraf, so kannte Leo keine genauen Zahlen, aber sie war hoch, mehrere 100 am Tag. Bei solchen Mengen spielten praktische Erwägungen (wie einfach und schnell man zum Beispiel saubermachen konnte) durchaus eine Rolle.
Als er den Korridor entlangging, fragte Leo sich, wie es wäre, wenn man in den Keller hinabgeführt würde – ohne jegliche Berufung und ohne jemanden, an den man sich dafür wenden konnte. Das Strafrechtssystem wurde bei Bedarf vollkommen umgangen. Leo wusste von Gefangenen, die man wochenlang einfach dort liegen gelassen hatte, und von Ärzten, deren einzige Aufgabe die Schmerzforschung war. Er redete sich ein, dass diese Dinge ja kein Selbstzweck waren. Es gab sie aus guten Gründen, im Interesse einer höheren Sache. Es gab sie, um Angst zu verbreiten. Angst war wichtig.
Ohne das Instrument der Angst wäre Lenin untergegangen. Und auch Stalin. Warum sonst wurden die Gerüchte über dieses Gebäude von MGB-Kadern bewusst gestreut, strategisch in der Metro und der Tram herumgeflüstert, als ob man die Bevölkerung mit einem Virus infizieren wollte? Die Angst wurde kultiviert. Angst war ein Teil seiner Arbeit. Und damit man ein solches Niveau an Angst aufrechterhalten konnte, brauchte es einen stetigen Nachschub an Menschen, die man ihr zum Fraß vorwarf.
Die Lubjanka war nicht das einzige gefürchtete Gebäude. Da gab es das Butyrka-Gefängnis mit seinen hohen Türmen und verwahrlosten Flügeln voller enger Zellen, in denen die Insassen mit Streichhölzern spielten, während sie darauf warteten, in die Arbeitslager deportiert zu werden. Oder das Lefortowo-Gefängnis, wohin Kriminelle gebracht wurden, gegen die man gerade ermittelte. Ihre Schreie waren bis auf die benachbarten Straßen zu hören. Trotzdem wusste Leo, dass die Lubjanka im Kopf der Leute einen besonderen Platz einnahm. Sie stand für den Ort, an dem jene abgeurteilt wurden, die sich der antisowjetischen Agitation, konterrevolutionärer Umtriebe und der Spionage schuldig gemacht hatten. Warum war es gerade diese Kategorie von Gefangenen, die den Leuten eine derartige Furcht einflößte? Ganz einfach: Jeder konnte sich beruhigt sagen, dass er niemals stehlen und nie jemanden vergewaltigen oder umbringen würde. Aber niemand konnte sich je sicher sein, ob er nicht der antisowjetischen Agitation, konterrevolutionärer Umtriebe oder der Spionage schuldig war, weil niemand, Leo eingeschlossen, sich genau darüber im Klaren war, worin diese Verbrechen eigentlich bestanden. In den 140 Artikeln des Gesetzbuches gab es nur einen einzigen Passus dazu, der Leo anleitete – den Abschnitt eines Paragraphen, der einen politischen Gefangenen als jemanden definierte, der aktiv verwickelt war in: umstürzlerische, subversive oder auf die Schwächung des sowjetischen Staates gerichtete Aktivitäten.
Das war alles. Ein dehnbarer Begriff, der auf jeden vom höchsten Parteifunktionär über die Balletttänzerin und den Musiker bis hinunter zum Schuster in Rente angewandt werden konnte. Nicht einmal jene, die im Innern der Lubjanka arbeiteten und die Maschinerie der Angst am Laufen hielten, konnten sich sicher sein, dass das Gebäude, in dem sie beschäftigt waren, nicht eines Tages auch sie verschlingen würde.
Obwohl Leo drinnen war, trug er immer noch all seine Sachen, einschließlich der Lederhandschuhe und eines langen Wollmantels. Ihn fröstelte. Wenn er still stehen blieb, schien der
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