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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Boden zu schwanken. Manchmal wurde ihm urplötzlich für Sekunden schwindelig. Er fühlte sich, als würde er jeden Moment umfallen. Seit zwei Tagen hatte er nichts mehr zu sich genommen, schon beim bloßen Gedanken an Essen wurde ihm übel. Trotzdem wies er stur jeden Gedanken daran zurück, dass er krank sein könnte. Vielleicht eine kleine Erkältung, vielleicht übermüdet, aber das würde vorbeigehen. Der übliche Kollaps, wenn die Amphetamine nachließen. Alles, was er brauchte, war ein bisschen Schlaf. Unmöglich konnte er sich einen Tag frei nehmen. Nicht heute, nicht, wenn Anatoli Brodskys Verhör anstand.
    Verhöre gehörten streng genommen gar nicht zu seinen Aufgaben. Dafür hatte der MGB Spezialisten, die nichts anderes taten, als von Zelle zu Zelle zu gehen, die Gefangenen zu verhören und ihnen – mit einer Mischung aus professioneller Gleichgültigkeit und persönlichem Stolz – Geständnisse abzupressen. Wie die meisten Angestellten wurden sie motiviert von der Aussicht auf einen erfolgsabhängigen Bonus, der gewährt wurde, wenn der Verdächtige umgehend und ohne Zusätze sein Geständnis unterschrieb. Ein wenig wusste Leo über ihre Methoden, aber persönlich kannte er keinen von ihnen. Die Verhörspezialisten waren eine verschworene Gemeinschaft, sie arbeiteten als Gruppe zusammen, teilten sich oft dieselben Verdächtigen und bündelten ihre jeweiligen Talente, um die Standhafteren aus allen Richtungen zu attackieren.
    Brutalität, Wortgewandtheit, Charme – all diese Vorzüge konnte man gebrauchen. Auch außerhalb der Arbeit blieben diese Männer und Frauen unter sich, aßen zusammen, tranken zusammen, gingen zusammen spazieren und tauschten untereinander Geschichten und Verhörmethoden aus. Obwohl sie so wie du und ich aussahen, konnte Leo sie trotzdem ziemlich mühelos erkennen. Viele ihrer extremeren Operationen spielten sich ausschließlich im Keller ab, wo sie Dinge wie die Zufuhr von Wärme und Licht kontrollieren konnten.
    Leos Aufgabe als Ermittler bedeutete hingegen, dass er die meiste Zeit entweder oben im Gebäude oder draußen verbrachte. Der Keller war eine Welt, in die er nur selten hinabstieg, eine Welt, vor der er die Augen verschloss, eine Welt, die er am liebsten unter seinen Füßen ließ.
    Nach kurzem Warten wurde er hereingerufen. Auf wakkeligen Beinen betrat er Generalmajor Kuzmins Büro.
    Nichts in diesem Raum war dem Zufall überlassen.
    Alles war peinlich genau geplant und befand sich an dem ihm zugedachten Platz. Die Wände schmückten gerahmte Schwarzweißfotografien, darunter eine, auf der Stalin Kuzmin die Hand schüttelte, aufgenommen am 70. Geburtstag des Führers. Darum herum gruppierte sich eine Sammlung gerahmter Propagandaplakate aus verschiedenen Jahrzehnten. Vermutlich sollte die weite Zeitspanne dokumentieren, dass Kuzmin schon immer dieses Büro innegehabt hatte, selbst während der Säuberungen in den dreißiger Jahren. Das stimmte aber gar nicht, denn damals war er im militärischen Abschirmdienst gewesen.
    Eines der Plakate zeigte ein fettes weißes Kaninchen in einem Käfig. ESST MEHR KANINCHENFLEISCH! Auf einem anderen schlugen drei mächtige rote Gestalten ihre roten Hämmer auf die Köpfe von drei schmollend dreinschauenden, unrasierten Männern. BEKÄMPFT FAULE ARBEITER! Es gab drei lächelnde Frauen, die in eine Fabrik gingen. VERTRAUT UNS EURE ERSPAR-NISSE AN! Das UNS auf dem letzten Plakat bezog sich allerdings nicht auf die drei lächelnden Frauen, sondern auf das Nationale Sparkonto. Ein weiteres Plakat zeigte ein Knollenmännchen in Anzug und Zylinder, das zwei zum Bersten mit Geldscheinen gefüllte Taschen trug.
    KAPITALISTISCHE CLOWNS! Es gab grobschlächtige Bilder von Docks, Schiffsbaumotiven, Eisenbahnen, lächelnden Arbeitern, wütenden Arbeitern und eine ganze Flotte von Lokomotiven, die alle Lenin gewidmet waren. BAUT AUF! Die Plakate wurden regelmäßig ausgewechselt, Kuzmin war eifrig darum bemüht, seine gesamte Kollektion vorzuführen. Mit gleicher Sorgfalt bedachte er seine »Bibliothek«. In seinen Regalen standen die richtigen Bücher, und sein Exemplar von ›Geschichte der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion – Kurzer Lehrgang‹, von Stalin höchstselbst herausgegeben, verschwand nur selten von seinem Schreibtisch. Selbst der Papierkorb enthielt nur streng ausgewählte Gegenstände. Vom niedrigsten Sekretär bis hin zu den höchstrangigen Offizieren wusste jeder, dass man Dinge, die man wirklich wegwerfen wollte,

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