Kind 44
herausschmuggelte und diskret auf dem Nachhauseweg verschwinden ließ.
Kuzmin stand am Fenster und sah hinaus auf den Lubjanka-Platz. Er war korpulent und untersetzt und trug wie üblich eine Uniform, die für seinen Umfang eine Nummer zu klein war. Seine Brille hatte dicke Gläser und rutschte ihm, weil sie zu schwer war, oft von der Nase. Kurz, er war ein lächerlich aussehender Mann, und nicht einmal die Allgewalt über Leben und Tod hatte ihm irgendeine Form von Gravität verleihen können. Obwohl Kuzmin, soweit Leo wusste, selbst nicht mehr an Verhören teilnahm, hieß es gerüchteweise, dass er in seiner Glanzzeit ein ziemlicher Experte gewesen war, der durchaus auch handgreiflich werden konnte. Wenn man ihn sich so ansah, fiel es schwer, das zu glauben.
Leo nahm Platz, während Kuzmin selbst am Fenster stehen blieb. Er schaute gerne nach draußen, während er seine Fragen stellte, denn wie er glaubte (und woran er Leo oft erinnerte), musste man äußerlich zur Schau gestellten Gefühlsregungen mit allergrößtem Misstrauen begegnen, es sei denn, der Betreffende wusste nicht, dass man ihn beobachtete. So hatte er eine wahre Meisterschaft darin entwickelt, vermeintlich aus dem Fenster zu schauen und einen dabei in Wahrheit in der Spiegelung des Glases zu beobachten. Allerdings hatte der Trick mittlerweile viel von seiner Wirkung verloren, denn praktisch jeder, Leo eingeschlossen, wusste, dass er beobachtet wurde. Und davon abgesehen wäre in der Lubjanka ohnehin kaum jemand aus der Deckung gekommen.
»Glückwunsch, Leo. Ich wusste, dass du ihn kriegen würdest. Diese Erfahrung war eine gute Lehre für dich.« Leo nickte. »Bist du krank?«
Leo zögerte. Offenbar sah er schlimmer aus, als er gedacht hatte. »Nichts von Bedeutung. Eine Erkältung vielleicht, aber das geht schon vorbei.«
»Ich nehme mal an, du hast dich über mich geärgert, weil ich dich von dem Brodsky-Fall abgezogen und dir die Sache mit Fjodor Andrejew aufgehalst habe. Richtig? Du denkst, die Angelegenheit mit Fjodor war unbedeutend und ich hätte dich lieber mit der Brodsky-Operation weitermachen lassen sollen.«
Kuzmin lächelte. Etwas schien ihn zu amüsieren. Leo konzentrierte sich, er spürte die Gefahr. »Nein, Herr Generalmajor, ich bin nicht verärgert. Ich hätte Brodsky sofort verhaften sollen. Es war mein Fehler.«
»Ja. Aber du hattest ihn nicht sofort verhaftet. War es also unter diesen Umständen falsch von mir, dich von dem Spionagefall abzuziehen und dich stattdessen mit einem trauernden Vater sprechen zu lassen? Das ist meine Frage.«
»Ich habe bisher nur über mein eigenes Versagen nachgedacht, Brodsky nicht sofort zu verhaften.«
»Du weichst aus. Aber lassen wir das mal so stehen.
Was ich sagen möchte, ist nur: Fjodors Familie war keine triviale Angelegenheit. Es war Korruption innerhalb des MGB selbst. Einer unserer Männer hatte sich durch seine Trauer verwirren lassen und sich und seine Familie unwillentlich zu Feinden des Staates gemacht.
Ich bin zwar zufrieden, dass du Brodsky gefasst hast, aber deinen Auftrag bei Fjodor habe ich für den wichtigeren gehalten.«
»Ich verstehe.«
»Dann kommen wir jetzt zur Sache Wassili Iljitsch Nikitin.«
Es war unausweichlich gewesen, dass seine Tat bekannt wurde. Wassili hatte keine Sekunde gezögert, sie versuchsweise gegen ihn zu verwenden. Leo konnte weder auf Kuzmins Unterstützung rechnen noch voraussagen, welcher Aspekt des Vorfalls ihn am meisten beschäftigte.
»Du hast mit der Waffe auf ihn gezielt? Und dann hast du ihn geschlagen? Er sagt, du wärst vollkommen außer dir gewesen. Er sagt, du hättest Drogen genommen. Sie hätten dich unberechenbar gemacht. Er will, dass du suspendiert wirst. Er ist wütend, verstehst du?«
Leo verstand nur zu gut. Um die Erschießungen ging es hier gar nicht. »Ich war der ranghöhere Offizier und hatte einen Befehl ausgegeben. Nikitin hat ihn missachtet. Wie soll ich die Befehlskette aufrecht erhalten, wenn meine Order missachtet wird? Das ganze System bricht zusammen. Vielleicht liegt es an meiner militärischen Laufbahn. Bei Militäroperationen werden Ungehorsam und Befehlsverweigerung mit dem Tod bestraft.«
Kuzmin nickte. Leo hatte seine Verteidigung klug gewählt – die Prinzipien militärischer Etikette. »Du hast natürlich recht. Wassili ist ein Hitzkopf. Das gibt er auch zu. Er hat einen Befehl missachtet. Das stimmt.
Aber die Kollaboration der Familie hat ihn aufgebracht.
Ich will nicht entschuldigen, was
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