Kind 44
Ganzen das Wohl des Ganzen. Die Rechtfertigung für solche Methoden war einfach und überzeugend. Das waren alles Feinde und sie hatten Böses getan. Hatte Leo im Krieg nicht ebenso drakonische Maßnahmen erlebt? Jawohl, und noch schlimmere. Hatte dieser Krieg ihnen nicht die Freiheit gebracht? War das hier nicht auch ein Krieg?
Ein Krieg gegen einen anderen Feind, einen im Inneren, aber trotzdem einen Feind? War all das notwendig? Jawohl. Das Überleben ihres politischen Systems rechtfertigte alles. Das Versprechen eines goldenen Zeitalters, wo es solche Brutalitäten nicht mehr gab, wo alles im Überfluss vorhanden und Armut nur noch eine vage Erinnerung wäre, rechtfertigte alles. Die Methoden waren nicht unbedingt wünschenswert, es gab keinen Grund, stolz darauf zu sein, und Leo konnte nicht verstehen, dass manchen Beamten das, was sie taten, regelrecht Spaß machte. Aber Leo war kein Narr. Tief unter dieser eleganten und oft praktizierten Kunst der Rechtfertigung lag ein winziger Zweifel – er schlummerte verborgen in seinem Innern wie ein unverdauter Same.
Die letzte Sorte Zellen schließlich waren die Verhörzellen. Leo erreichte die Verhörzelle, wo sie den Verräter festhielten. Eine massive Stahltür mit einem Guckloch.
Er klopfte an und fragte sich, was er drinnen vorfinden würde. Ein kaum siebzehnjähriger Junge schloss auf.
Die Zelle selbst war klein und rechteckig, mit nackten Betonwänden und nacktem Betonboden und dabei so hell erleuchtet, dass Leo beim Eintreten die Augen zusammenkniff. Fünf starke Glühbirnen hingen von der Decke. An einer Wand stand ein Sofa, das in diese menschenfeindliche Umgebung so gar nicht passen wollte. Darauf saß Anatoli Brodsky, an Hand- und Fußgelenken gefesselt. Der junge Beamte berichtete stolz:
»Er macht immer wieder die Augen zu und versucht zu schlafen. Aber dann schlage ich ihn. Der hat noch keine Minute Ruhe gehabt, das kann ich Ihnen versprechen.
Das Beste daran ist das Sofa. Wie gern würde er sich zurücklehnen und einschlafen. Es ist so bequem, ganz weich, ich habe es ausprobiert. Aber ich lasse ihn nicht schlafen. Das ist so, als wenn man einem Verhungernden Essen hinstellt, aber gerade eben außer Reichweite.«
Leo nickte, er merkte dem jungen Beamten die leichte Enttäuschung darüber an, dass er angesichts seiner diensteifrigen Hingabe kein enthusiastischeres Lob erhielt. Bewaffnet mit seinem schwarzen, hölzernen Schlagstock bezog er in einer Zellenecke Posten. Mit seiner entschlossenen, ernsten Miene und den geröteten Wangen sah er aus wie ein Spielzeugsoldat.
Brodsky kauerte vornübergebeugt auf der Sofakante, die Augen halb geschlossen. Stühle gab es keine, also setzte Leo sich neben ihn auf das Sofa. Ein solches Möbel in einem solchen Raum war absurd. Das Sofa war tatsächlich sehr weich, Leo versank darin und genoss für Sekunden diese besondere Form der Folter.
Aber er hatte keine Zeit zu verlieren, er musste schnell zu Werke gehen. Jede Minute würde Wassili hier sein, und Leo hoffte, dass er Anatoli überreden konnte zu kooperieren, bevor er ankam.
Anatoli hob den Kopf und öffnete die Augenlider einen Spalt. Er brauchte einen Moment, bevor sein vom Schlafentzug verwirrter Geist den Mann neben ihm erkannte. Das war derjenige, der ihn gefangen hatte. Der ihm das Leben gerettet hatte. Mit schläfriger Stimme, so als stünde er unter Drogen, murmelte er: »Die Kinder. Michails Töchter. Wo sind sie jetzt?«
»Sie wurden in ein Waisenhaus gebracht. Sie sind in Sicherheit.«
Ein Waisenhaus. Sollte das ein Witz sein, oder war das Teil seiner Bestrafung? Nein, dieser Mann machte keine Witze. Er war ein Gläubiger. »Waren Sie schon einmal in einem Waisenhaus?«
»Nein.«
»Die Mädchen hätten eine bessere Überlebenschance gehabt, wenn Sie sie sich selbst überlassen hätten.«
»Der Staat kümmert sich jetzt um sie.«
Zu Leos Überraschung richtete der Gefangene sich auf und befühlte mit immer noch gefesselten Händen Leos Stirn. Der junge Beamte sprang vor und erhob den Schlagstock. Doch bevor er dem Gefangenen einen Schlag auf die Knie versetzen konnte, scheuchte Leo ihn mit der Hand weg, und der Junge trat zögernd zurück.
»Sie haben Fieber. Sie sollten zu Hause sein. Ihr Männer habt doch ein Zuhause, oder? Wo ihr schlaft und esst und all die Sachen macht, die normale Leute so tun?«
Leo wunderte sich über den Mann. Er war immer noch Arzt, selbst jetzt noch. Immer noch unerschrocken, selbst jetzt noch. Er war tapfer,
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