Kind 44
und gegen seinen Willen mochte Leo ihn.
Er wich zurück und wischte sich mit dem Jackenärmel über die feuchte Stirn. »Sie können sich unnötige Leiden ersparen, wenn Sie mit mir reden. Es hat noch niemanden gegeben, den wir verhört haben und der sich dann nicht gewünscht hätte, sofort zu gestehen. Nicht einen, das können Sie mir glauben. Was bringt Ihnen Ihr Schweigen denn schon ein?«
»Nichts.«
»Werden Sie mir also die Wahrheit sagen?«
»Ja.«
»Für wen arbeiten Sie?«
»Für Anna Wladisnawowna. Ihre Katze erblindet. Dora Andrejewa. Ihr Hund will nicht fressen. Arkadi Maslow.
Sein Hund hat sich einen Vorderlauf gebrochen. Matthias Rakosi. Er hat eine Sammlung seltener Vögel.«
»Wenn Sie unschuldig sind, warum sind Sie dann weggelaufen?«
»Ich bin weggelaufen, weil ihr mich verfolgt habt.
Sonst gab es keinen Grund.« »Das ergibt keinen Sinn.«
»Das stimmt, aber wahr ist es trotzdem. Wenn man verfolgt wird, wird man auch immer verhaftet. Wenn man verhaftet wird, ist man auch immer schuldig. Unschuldige werden hier nicht hergebracht.«
»Mit welchen Beamten der amerikanischen Botschaft arbeiten Sie zusammen und welche Informationen haben Sie ihnen gegeben?«
Jetzt verstand Anatoli. Vor einigen Wochen hatte ihm ein Untersekretär der amerikanischen Botschaft seinen Hund zur Untersuchung gebracht, der an einer infizierten Wunde litt. Er hätte eine Behandlung mit Antibiotika benötigt, aber da Antibiotika nicht zu bekommen waren, hatte Anatoli das Tier vorsichtig gewaschen, die Wunde wenigstens desinfiziert und den Hund zur Beobachtung dabehalten. Nicht lange danach hatte er einen Mann entdeckt, der vor seinem Haus herumlungerte. In jener Nacht hatte er kein Auge zugetan. Was sollte er denn falsch gemacht haben? Am nächsten Morgen waren sie ihm bis zur Arbeit und auch wieder nach Hause gefolgt. Nach der vierten schlaflosen Nacht hatte er beschlossen zu fliehen. Jetzt endlich erfuhr er, was man ihm vorwarf. Er hatte den Hund eines Ausländers behandelt.
»Ich habe keine Zweifel, dass ich letzten Endes genau das sagen werde, was Sie von mir hören wollen, aber jetzt sage ich nur Folgendes: Ich bin Anatoli Tarasowitsch Brodsky. Ich bin Tierarzt. Bald schon wird in Ihren Akten stehen, dass ich ein Spion war. Sie werden meine Unterschrift und mein Geständnis haben. Sie werden mich zwingen, Namen zu nennen. Es wird weitere Verhaftungen geben, weitere Unterschriften und weitere Geständnisse. Aber was immer ich Ihnen am Ende auch sagen werde, es wird eine Lüge sein. Denn ich, Anatoli Tarasowitsch Brodsky, bin Tierarzt.«
»Sie sind nicht der erste Schuldige, der behauptet, unschuldig zu sein.«
»Glauben Sie wirklich, dass ich ein Spion bin?«
»Schon allein nach diesem Gespräch habe ich genug in der Hand, um Sie wegen Subversion zu verurteilen. Sie haben kein Hehl daraus gemacht, dass Sie dieses Land hassen.«
»Ich hasse dieses Land nicht. Sie hassen dieses Land.
Sie hassen die Menschen in diesem Land. Warum würden Sie sonst so viele von ihnen verhaften?«
Leo wurde ungeduldig. »Ist Ihnen klar, was mit Ihnen geschieht, wenn Sie nicht mit mir reden?«
»Selbst Kindern ist klar, was hier drinnen geschieht.«
»Aber Sie weigern sich immer noch zu gestehen?«
»Ich werde es Ihnen nicht einfacher machen, nachts schlafen zu können. Wenn Sie wollen, dass ich zugebe, ein Spion zu sein, müssen Sie mich schon foltern.«
»Ich hatte gehofft, das ließe sich vermeiden.«
»Sie glauben, Sie können hier unten anständig bleiben?
Los, holen Sie schon die Messer raus. Ihr Folterwerkzeug. Wir wollen mal sehen, ob Sie sich auch noch so salbungsvoll anhören, wenn Ihre Hände erst mit meinem Blut besudelt sind.«
»Alles, was ich brauche, sind ein paar Namen.«
»Nichts ist störrischer als die Wahrheit. Deshalb hasst ihr sie so. Sie beleidigt euch. Deshalb kann ich euch zur Weißglut bringen, indem ich einfach nur sage: Ich, Anatoli Tarasowitsch Brodsky, bin Tierarzt. Meine Unschuld beleidigt euch, weil ihr wollt, dass ich schuldig bin. Und ihr wollt, dass ich schuldig bin, weil ihr mich verhaftet habt.«
Es klopfte an der Tür. Wassili war da. Im Aufstehen murmelte Leo: »Ich wünschte, Sie hätten mein Angebot angenommen.«
»Vielleicht werden Sie eines Tages verstehen, warum ich das nicht konnte.«
Der junge Beamte schloss die Tür auf und Wassili kam herein. In seiner Begleitung war ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, der einen zerknitterten braunen Anzug trug. An der
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