Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
Stelle, wo Wassili am Kopf getroffen worden war, trug er einen auffälligen Verband.
    Leo vermutete, dass er keinen praktischen Nutzen hatte, sondern nur dazu da war, dass Wassili von möglichst vielen Leuten angesprochen wurde und den Vorfall erzählen konnte. Dass er jetzt Leo und Anatoli beisammen sah, schien ihm nicht zu gefallen.
    »Hat er gestanden?«
    »Nein.«
    Offensichtlich erleichtert bedeutete Wassili dem jungen Beamten, den Gefangenen auf die Füße zu stellen, während der ältere Mann im braunen Anzug vortrat und Leo lächelnd die Hand reichte.
    »Doktor Roman Chwostow. Ich bin Psychiater.« »Leo Demidow.« »Freut mich.«
    Sie schüttelten einander die Hand. Chwostow deutete auf den Gefangenen: »Machen Sie sich um den keine Sorgen.« Er führte sie zu seinem Behandlungsraum, schloss auf und winkte sie hinein, als seien sie Kinder und dies sein Spielzimmer. Der Raum war klein und sauber. Auf den weißen Fliesenboden war ein roter Ledersessel geschraubt. Mit einer Reihe von Hebeln konnte man den Sessel zu einer Liege aufklappen und wieder hochstellen. An den Wänden hingen Glasschränke mit Flaschen und Pulvern und Pillen, die alle mit ordentlichen weißen Etiketten versehen und fein säuberlich mit schwarzer Tinte beschriftet waren. Unter einem der Schränke hing ein stählernes chirurgisches Besteck. Ein leichter Geruch nach Desinfektionsmittel lag in der Luft.
    Brodsky wehrte sich nicht, als man ihn am Stuhl festschnallte. Hand- und Fußgelenke sowie Nacken wurden mit schwarzen Lederriemen fixiert. Leo schnürte die Beine fest, während Wassili sich um die Arme kümmerte. Als sie fertig waren, konnte er sich nicht mehr rühren. Leo trat zurück.
    Chwostow schrubbte sich am Waschbecken die Hände.
    »Früher habe ich einmal in einem Gulag gearbeitet, nicht weit von Molotow. Das Krankenhaus war voll von Leuten, die Geisteskrankheiten simulierten. Sie unternahmen alles Mögliche, damit sie nicht arbeiten mussten. Sie liefen wie die Tiere herum, brüllten Obszönitäten, rissen sich die Kleider vom Leib, masturbierten in aller Öffentlichkeit, koteten auf den Fußboden, und das alles nur, um mich davon zu überzeugen, sie seien geistesgestört. Glauben konnte man davon gar nichts. Meine Aufgabe war herauszufinden, wer log und wer ein Echter war. Es gab zahllose wissenschaftliche Untersuchungen, aber die Gefangenen bekamen schnell Wind davon, die Informationen wurden weitergetragen, und bald wusste jeder, was er tun musste, um das System zu unterlaufen. Wenn ein Gefangener zum Beispiel behauptete, er sei Hitler oder ein Pferd oder etwas ähnlich Übertriebenes, dann war er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Simulant. Also spielten die Gefangen nicht mehr Hitler und wurden gerissener und subtiler in ihren Verstellungen. Am Ende gab es nur einen Weg, die Wahrheit herauszufinden.«
    Er füllte eine Spritze mit einer öligen gelben Flüssigkeit.
    Als sie voll war, legte er sie auf einem Stahltablett ab, schnitt dem Gefangenen vorsichtig ein Stück vom Hemd ab und legte ihm eine Aderpresse aus Gummi an, die eine dicke blaue Vene zum Vorschein brachte.
    »Man hat mir gesagt, Sie haben medizinische Kenntnisse. Ich werde Ihnen nur Kampferöl in die Blutbahn spritzen. Wissen Sie, was das mit Ihnen macht?«
    »Meine medizinische Erfahrung beschränkt sich darauf, Menschen zu helfen.«
    »Das hier kann Menschen auch helfen. Es kann den Irregeleiteten helfen. Es wird einen Anfall auslösen.
    Während dieses Anfalls wird es Ihnen unmöglich sein zu lügen. Ehrlich gesagt werden Sie auch sonst zu nicht viel in der Lage sein. Wenn Sie sprechen können, werden Sie nur die Wahrheit sagen können.«
    »Also los. Injizieren Sie schon Ihr Zeug. Hören Sie sich an, was ich zu sagen habe.«
    Chwostow wandte sich an Leo. »Wir legen ihm einen Gummiknebel an, damit er sich in der intensivsten Phase des Anfalls nicht die Zunge durchbeißt. Aber wenn er sich ein wenig beruhigt hat, können wir den Knebel ohne Risiko entfernen und Sie können Ihre Fragen stellen.«
    Wassili nahm sich ein Skalpell und fing an, sich mit der Klinge die Fingernägel sauber zu machen, die Dreckringe wischte er sich am Mantel ab. Als er fertig war, legte er das Skalpell wieder hin, griff in seine Tasche und kramte eine Zigarette hervor.
    Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nicht hier drin, bitte.«
    Wassili steckte die Zigarette wieder weg. Der Arzt musterte die Spritze – ein gelbes Tröpfchen erschien auf der Nadelspitze. Zufrieden

Weitere Kostenlose Bücher