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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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stach er die Nadel in Brodskys Vene.
    »Wir müssen es langsam machen, sonst bekommt er eine Embolie.« Chwostow drückte den Kolben der Spritze herunter, und die sirupartige gelbe Flüssigkeit wurde in den Arm des Gefangenen gepresst.
    Der Effekt ließ nicht lange auf sich warten. Plötzlich verriet Anatolis Blick kein Erkennen mehr, er verdrehte die Augen und sein Körper fing an zu zittern, als würden durch den Stuhl, auf den er geschnallt war, 1000 Volt gejagt. Die Nadel steckte immer noch in seinem Arm, und nur ein wenig Flüssigkeit war injiziert worden.
    »Jetzt geben wir ihm ein bisschen mehr.« Chwostow injizierte noch einmal fünf Milliliter, und in Anatolis Mundwinkeln bildeten sich weiße Bläschen.
    »Und jetzt warten wir ... wir warten ... wir warten ...
    so, jetzt den Rest.« Er zog die Nadel heraus und drückte einen Baumwolltupfer auf die Eintrittsstelle im Arm.
    Dann trat er zurück.
    Brodsky wirkte weniger wie ein Mensch als wie eine Maschine, die verrückt spielte, die überdreht worden war. Er riss an seinen Fesseln, als wäre er von einer äußeren Macht besessen. Etwas knackte. Ein Knochen in seinem Handgelenk war gebrochen, als er ruckartig an seiner Fessel gezerrt hatte. Chwostow nahm die Verletzung in Augenschein, die sofort anschwoll.
    »Das ist nichts Ungewöhnliches.« Dann schaute er auf seine Uhr und fügte hinzu. »Warten Sie noch ein kleines bisschen.«
    Aus beiden Mundwinkeln des Gefangenen quoll jetzt Schaum, lief ihm das Kinn hinunter und tropfte auf seine Beine. Die Zuckungen nahmen ab.
    »In Ordnung. Stellen Sie Ihre Fragen. Mal sehen, was er zu sagen hat.«
    Wassili löste den Gummiknebel. Brodsky spuckte Schaum und Speichel in seinen Schoß. Ungläubig drehte Wassili sich um. »Was zum Teufel kann er uns schon erzählen, solange er so ist?«
    »Versuchen Sie es.«
    »Für wen arbeiten Sie?«
    Statt einer Antwort sackte Brodskys Kopf auf die Halsfessel. Er röchelte. Blut lief ihm aus der Nase.
    Chwostow nahm ein Tuch und wischte es weg. »Versuchen Sie es noch mal.«
    »Für wen arbeiten Sie?«
    Brodskys Kopf rollte zur Seite wie bei einer Marionette oder Puppe: lebensecht, aber nicht wirklich lebendig.
    Sein Mund ging auf und zu, die Zunge kam heraus – eine mechanische Nachahmung von Sprechen, aber zu hören war nichts.
    »Versuchen Sie es noch mal.«
    »Für wen arbeiten Sie?«
    »Noch mal.«
    Wassili schüttelte den Kopf und wandte sich Leo zu.
    »Das ist doch bescheuert. Versuch du mal.«
    Leo hatte sich mit dem Rücken an die Wand gedrückt, so weit weg wie möglich. Jetzt trat er vor. »Für wen arbeiten Sie?«
    Ein Laut entfuhr dem Mund. Er war lächerlich, komisch, wie das Gebrabbel eines Kleinkinds.
    Chwostow kreuzte die Arme und musterte Brodskys Augen. »Versuchen Sie es noch mal. Stellen Sie am Anfang nur einfache Fragen. Fragen Sie ihn, wie er heißt.«
    »Wie heißen Sie?«
    »Versuchen Sie es noch mal. Vertrauen Sie mir. Er kommt wieder zu sich. Bitte, versuchen Sie es noch mal.«
    Leo trat näher. Er war jetzt so nah, dass er den Arm ausstrecken und Anatolis Stirn hätte berühren können.
    »Wie heißen Sie?«
    Die Lippen bewegten sich.
    »Anatoli.«
    »Für wen arbeiten Sie?«
    Der Mann zuckte nicht mehr. Die Pupillen kamen wieder zum Vorschein.
    »Für wen arbeiten Sie? Für wen arbeiten Sie?«
    Einen Moment lang herrschte vollkommene Stille. Und dann sprach er. Matt, haspelnd. So wie ein Mensch vielleicht im Schlaf spricht. »Anna Wladislawowna.
    Dora Andrejewa. Arkadi Maslow. Matthias Rakosi.«
    Wassili griff seinen Notizblock und notierte sich die Namen. »Kennst du irgendeinen dieser Namen?«
    Ja, Leo kannte die Namen. Anna Wladislawowna: deren Katze erblindete. Dora Andrejewa: deren Hund nicht fressen wollte. Arkadi Maslow: dessen Hund sich einen Vorderlauf gebrochen hatte. Die Saat des Zweifels, die unverdaut in seinem Innern geschlummert hatte, ging plötzlich auf.
    Anatoli Tarasowitsch Brodsky war Tierarzt.
    Anatoli Tarasowitsch Brodsky war ein Tierarzt und sonst gar nichts.

17. Februar
    Doktor Zarubin setzte seine Nerzmütze auf, nahm den ledernen Aktenkoffer und bahnte sich, halbherzige Entschuldigungen murmelnd, einen Weg zur Tür der überfüllten Tram. Der Bürgersteig war vereist, und als er ausstieg, musste Zerubin sich kurz an der Bahn festhalten. Plötzlich fühlte er sich alt. Unsicher auf den Beinen und ängstlich, dass er hinfallen könnte. Die Bahn fuhr ab, Zarubin sah sich um und hoffte, dass dies die richtige Haltestelle war. Hier

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