Kind der Nacht
sprechen!«
»Was ich sagen will, ist, ich weiß nicht genau, was für eine Abmachung du mit André getroffen hast; aber eines weiß ich mit Sicherheit: Er ist ein bisschen eigenartig, wenn man so will. Um einiges misstrauischer als du! Und sehr einsam. Er hat alles satt, alles langweilt ihn nur noch. In gewisser Hinsicht ist er immer noch ein Kind. Und ich glaube, was dich betrifft, ist er am Ende seines Lateins angelangt. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll!«
Carol wandte sich ab. Es interessierte sie einen Dreck, ob er sich einsam fühlte. Aber sie hielt den Mund und hörte zu, was Chloe ihr noch zu sagen hatte.
»Ich kenne ihn schon sehr lange, seit seiner Geburt, und ich glaube, ich darf sagen, ich kenne ihn recht gut. Am besten geht man aus dem Augenblick heraus mit ihm um. Vergiss, was geschehen ist! Kein Wort davon! Er kann nämlich noch viel gewalttätiger werden, als du es bereits erlebt hast. Nimm ihn einfach so, wie er sich im Augenblick gibt, ganz gleich ob gut oder böse. Es ist besser so, glaub mir!«
»Natürlich! Ich habe auch gelesen, was die Psychologen so schreiben. Manche Männer können ganz einfach nicht der Tatsache ins Auge sehen, dass sie brutale Schweine sind. Konfrontiere bloß keinen Mann, der Frauen schlägt, mit dem, was er getan hat!«
Seufzend wandte Chloe sich zur Tür um und drückte die Klinke nach unten. »Ich will dir doch nur helfen. Euch beiden. Tu, was du nicht lassen kannst!«
Als Chloe gegangen war, stand Carol auf und trat an eines der Fenster. Draußen brandete der Ozean wütend gegen riesige, unver rückbare Felsen an. Die gigantischen Granitblöcke schienen direkt aus dem Meeresboden zu wachsen. Unablässig dem Ansturm des Atlantiks und der Naturgewalten preisgegeben, wirkten sie auf Carol wie der Inbegriff unerschütterlicher Stärke, und dennoch mussten sie das Wüten bis in alle Ewigkeit ertragen. In dem Zimmer, in dem sie sich befand, herrschte Grabesstille. Kein Laut drang hier herauf. Sie fühlte sich lebendig begraben.
Sie dachte darüber nach, was Chloe ihr gesagt hatte, und fasste den Entschluss, mehr über André in Erfahrung zu bringen. Vielleicht kam sie ihm derart bei. Wenn ich nicht auf ihn eingehe, denkt er, ich will unsere Abmachung brechen. Er könnte mich sogar umbringen. Mich umbringen, und zwar jederzeit! Wie kann Chloe nur glauben, er habe einen Narren an mir gefressen, wenn er mich in einer Tour nur bedroht, ganz zu schweigen von gestern Abend? Er war bereit, ihr bei der geringsten Provokation - oder auch falls er etwas nur dafür hielt - Schmerz zuzufügen.
Sie hielt ihn für verrückt, und die übrigen Bewohner dieses Hauses ebenfalls, und das machte ihr Angst. Allen Schwierigkeiten zum Trotz, die sie mit ihm gehabt hatte, war Rob wenigstens vergleichsweise normal gewesen, völlig durchschnittlich, sodass man sich mit ihm mitunter regelrecht langweilte. Ihr gemeinsames Leben war einfach und unkompliziert verlaufen, allerdings auch ohne großartige Leidenschaft. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie merkwürdig sich alles für sie entwickelt hatte, dass sie ihren Ex-Mann - einen Mann, der sie betrogen hatte - mit einem gewalttätigen, Blut trinkenden Irren verglich. Ich bin wohl schon selbst dabei durchzudrehen, dachte sie.
Sie hörte die Uhr im Erdgeschoss zehn schlagen. Mit einem Mal hatte sie Angst.
Carol hastete zum Kamin und entzündete rasch ein Feuer, dann setzte sie sich zaghaft auf den Sessel daneben. Auf dem Tisch stand das Essen, das Chloe ihr gebracht hatte. Sie hob den Deckel an: Hühnchen, naturbelassener Reis und Brokkoli. Sie hatte Hunger, brachte aber lediglich ein paar Bissen herunter; in ihrem Hals saß ein dicker Kloß. Aus Nervosität und weil sie sonst nichts zu tun hatte, probierte sie die Türklinke. Es war abgeschlossen. Jeder hier hat einen Schlüssel, dachte sie. Nur ich nicht!
Nachdenklich verlegte Carol sich aufs Warten und versuchte sich in einen Gemütszustand zu versetzen, der es ihr erlaubte, so zu tun, als sei letzte Nacht nichts geschehen. Nichts, was ihr wehtat. Doch als sie den Schlüssel im Schloss hörte, fuhr sie hoch und war mit einem Satz hinter der Lehne des Sessels. Sie brauchte eine Barriere, hinter der sie sich verschanzen konnte.
Heute Abend trug er eher konservative Kleidung, einen nüchternen grauen Anzug und graue Schuhe, dazu ein blaues Hemd und eine graue Krawatte. Sobald er die Tür verriegelt hatte, wandte er sich
Weitere Kostenlose Bücher