Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
vom Schlafen abhielt. Es war die Vorstellung, dass diese Toten immer noch irgendwo da draußen lagen, der Wildnis ausgesetzt, und darauf warteten, gefunden zu werden.
Das und die Ahnung, dass es noch mehr von ihnen geben könnte. Wenn nicht jetzt, dann jedenfalls bald. Vielleicht aber auch nicht. Geschahen diese Morde wirklich zufällig, dann musste man weder zwangsläufig davon ausgehen, dass auf dieser Ablagestelle weitere Opfer hinzukamen, noch davon, dass dies nicht geschah.
Nachdem ich endlich eingeschlafen war, träumte ich, dass ich draußen vor einem Haus stand. Es war ein zweistöckiges Gebäude an einer langen, breiten Straße, die sich vor und hinter mir bis zum Horizont erstreckte. Die Häuser in der Gegend sahen alle gleich aus: aus Holz, ein wenig klapprig, fast wie selbstgebaut. Und jedes inmitten eines eingezäunten Stücks dürren Brachlandes. Hier wuchs nichts. Eine leichte Brise wehte über das Land, und um mich herum bauschte sich Staub über dem Asphalt auf, als hätte mich ein Auto gerade hier abgesetzt und wäre dann mit quietschenden Reifen davongebraust. Die Wolken am Himmel über mir zogen eilends dahin.
Das Haus hatte einen roten Anstrich, wenngleich die Farbe schon verblasst war. Ich ging zur Haustür und drückte dagegen. Sie schwang geräuschlos auf, und ich betrat eine kleine Diele. Rechts befand sich ein Wohnzimmer mit abgewetzten Sofas und einem Holzschrank, der nicht hierher zu passen schien, auch wenn ich nicht sagen konnte, warum. Links eine verdreckte Küche, auf deren Arbeitsplatte sich verkrustete Fettränder um ehemals dort abgestellte Tassen und Teller wanden.
Vor mir führte ein dunkles Treppenhaus nach oben.
Ich hielt einen Augenblick inne und lauschte. Fühlte. Zunächst schien es still zu sein in dem Haus, aber das stimmte nicht. Da war etwas. Kein Geräusch, sondern so etwas wie ein Herzschlag. Es war ein langsames und druckvolles Dröhnen, als würde irgendwo im Haus hinter einer geschlossenen Tür auf eine Trommel geschlagen.
Ich ging die Treppe hinauf, meine Haut kribbelte.
Vom Absatz der Treppe lief ein Gang zu einem hellen Rundbogenfenster, das auf den rückwärtigen Teil des Anwesens hinausgehen musste. Dorthin führte ein langer, ausgefranster roter Teppich, zu schmal, um bis zu den morschen Sockelleisten auf beiden Seiten zu reichen. Vor dem Fenster wirbelten Staubpartikel wie ein Schwarm Mücken umher und formten flüchtige Muster von Fingerabdrücken in der Luft.
Langsam bewegte ich mich über den Flur. Dabei wurde der Herzschlag immer lauter.
Es gab drei Türen. Die erste stand offen und führte in ein Badezimmer. Alles darin schimmerte in Blau- und Grüntönen, als spähte ich in eine künstlich beleuchtete Unterwasserhöhle. Ich wandte mich ab und ging weiter.
Die zweite der beiden Türen, gegenüber auf der anderen Seite des Flurs, war geschlossen. Als ich vor ihr stand, hörte ich, dass das Geräusch aus dem dahinterliegenden Raum kam.
Ich blieb einen Moment davor stehen und betrachtete sie.
Dann streckte ich den Arm aus und drückte sie auf.
Jäh verstummte das Geräusch. Das Licht aus dem Flur fiel in einen winzigen dunklen Raum, der nicht größer war als eine Zelle. Er war leer geräumt. In einer Ecke kauerte eine Frau mit angezogenen Beinen in einem leuchtend weißen Nachtgewand. Das dunkle Haar fiel ihr über die entblößten Knie und die dünnen Schienbeine.
Sie schien zu weinen, lautlos, als befände sie sich hinter einer Glaswand. Ein zarter Hauch von Honig hing in der Luft.
»Hallo?«, sagte ich.
Sie hörte auf zu schluchzen und war einen Moment ganz still.
»Hallo. Was ist mit Ihnen?«
Sie hob langsam den Kopf und sah mich an.
»Oh«, sagte ich.
Sie war eine wunderschöne junge Frau – zumindest war sie es einmal gewesen. Ihre Gesichtshaut war strahlend weiß, umrahmt von schwarzem Haar. Das rechte Auge war geschlossen und so stark angeschwollen, dass es aussah, als befände sich unter ihrer Augenbraue nichts als ein dicker Strich.
Emmeline Lewtschenko. Nur eine Erinnerung oder ein Geist, wenn das überhaupt zwei verschiedene Dinge waren, erschienen mir in meinem Alptraum. Ein Bild von ihr, wie sie damals war, als ich sie hätte retten können oder müssen, und es nicht getan hatte.
Nach einem Moment der Stille stürzte sie schreiend auf mich zu.
Achter Tag
30
D ie Kaffeemaschine fängt gerade an zu röcheln und zu spucken, als Jake Marie einen Tritt verpasst.
Sie streicht sich mit der Hand sanft über die Wölbung und
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