Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
einen so verschlossenen Mann erlebt zu haben. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, aber die äußerlichen körperlichen Merkmale des Mannes ließen genügend Rückschlüsse zu. Vierunddreißig Jahre alt, gutaussehend, kräftig gebaut und sehr athletisch. Vor vierundzwanzig Stunden musste er noch der Inbegriff eines tatkräftigen, soliden Mannes gewesen sein, überlegte ich.
Allerdings hatte er vor vierundzwanzig Stunden noch eine Frau, die kurz vor der Geburt eines Sohnes stand, und auch wenn ihm Spuren jenes Mannes geblieben waren, wirkte er vollkommen aufgelöst. Ein inwendiges Uhrwerk war in den letzten Stunden um zahllose Jahre vorgestellt worden und hatte ihn innerlich so sehr ausgezehrt und altern lassen, dass ihm der Verlust, den er erlitten hatte, körperlich anzusehen war. Er war wie gelähmt.
»Jake«, sagte er.
Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, was er meinte.
»So sollte er heißen?«
»So heißt er.«
Er sah mich böse an. Unter anderen Umständen wäre das vielleicht ein erboster oder eindringlicher Blick gewesen, doch dazu fehlte ihm jetzt, da er von reinen Emotionen zerrissen wurde, jegliche Entschlossenheit. Dennoch hatte er recht. Mir fiel auf, dass Rachel und ich über Namen noch nicht einmal gesprochen hatten. Ich fragte mich, ob sie sich schon welche ausgedacht hatte, die sie mir aufgrund der Verstimmung zwischen uns nur noch nicht gesagt hatte. Bestimmt war es so. Das war schließlich normal, oder? So machten die Leute das normalerweise doch.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Richtig, Jake.«
»Das geht nicht gegen Sie. Tut mir leid, aber Marie …«
Kopfschüttelnd brach Wilkinson ab, hielt inne und versuchte, sich wieder zu sammeln. Fest entschlossen, dachte ich, nicht zu weinen. So niedergeschlagen er auch war, gehörte er bestimmt nicht zu der Sorte Mann, die vor Fremden weinen würde, nicht einmal unter solchen Umständen. Die Last schien ihm schwer auf den Schultern zu liegen. Laura und ich saßen schweigend da und warteten geduldig, bis er wieder sprechen konnte.
»Marie wollte, dass er so heißt«, fing er schließlich wieder an. »Ich glaube, ich brauchte eine Weile, um es zu begreifen. Es war erst so eine … abstrakte Vorstellung. Bis es auf einmal … na ja, eben Jake war.«
»Das tut mir leid«, sagte ich wieder.
Dieses Mal meinte ich es anders: nicht als Entschuldigung, sondern eher als Versuch, Anteilnahme zu zeigen. Es tut mir so leid, dass Sie einen solchen Verlust erleiden und so etwas durchmachen müssen, irgendwas in der Art. Aber so etwas zu sagen war eigentlich sinnlos. Selbst in meinen Ohren klang es abgedroschen, und Wilkinson nahm es nicht einmal wahr. Warum auch? Ich hatte gesehen, was der Killer bei Marie Wilkinson angerichtet hatte. Ich hatte sie zwar weder gekannt noch geliebt und war durch die unzähligen grauenhaften Dinge, die ich in der Vergangenheit bereits gesehen hatte, in gewisser Weise sogar darauf vorbereitet. Trotzdem war das Haus der Wilkinsons der fürchterlichste und abscheulichste Tatort, den ich je zu Gesicht bekommen habe.
»Ich kann mir sicherlich nur schwer vorstellen, was Sie durchmachen«, sagte ich. »Aber ich kann Ihnen sagen, was wir tun werden. Wir arbeiten rund um die Uhr, um diesem Kerl das Handwerk zu legen, und er wird für das büßen, was er getan hat.«
»Ja.«
Wilkinson sah mich an, als er das sagte, und diesmal war schon mehr Zorn in seinem Blick zu erahnen. Gnade ihm Gott, dachte ich, wenn Wilkinson den Mann in die Finger bekommt. Angesichts dessen, was passiert war – nicht zuletzt auch angesichts des unfassbaren, unmenschlichen Grauens von heute –, wünschte ich fast, dass sich das erfüllen würde.
»Wir bitten Sie dennoch, alles noch einmal zu schildern, damit wir ihn schneller kriegen. Jedes noch so kleine Detail kann uns helfen. Und vielleicht sogar das Leben eines anderen retten.«
Er nickte bedächtig.
»Ich weiß.«
Was er gestern gemacht hatte, hatten wir bereits notiert. Aber ich wollte trotzdem alles noch mal durchgehen für den Fall, dass er oder wir etwas übersehen hatten. Marie hatte ihm einen Kaffee gemacht, den er getrunken hatte, bevor er gegen halb neun zur Arbeit gegangen war. Etwa eine Viertelstunde später hatte Keith Carter, ein älterer Nachbar der Wilkinsons, bei der Polizei angerufen, um zu melden, dass er einen maskierten Einbrecher dabei beobachtet hatte, wie er in das Nachbarhaus eindrang.
Was dann geschah, konnte bisher nicht ganz geklärt werden. Jedenfalls schien Carter die
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