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Kind des Glücks

Kind des Glücks

Titel: Kind des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norman Spinrad
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die Heiler behaupten, tatsächlich eine Diskrepanz zwischen den Ereignissen im Reich der Außenwelt und den Abbildern derselben im Gehirn ist, wenn die Aufhebung der Schnittstelle zwischen der Reise durch die Wildnis der Baumwipfel und der Reise meines Geistes durch meine Geschichte eine bloße psychische Fehlfunktion war, dann war ich nach einer so objektiven Definition vraiment nicht mehr bei Verstand.
    Doch dieselben Heiler könnten nicht leugnen, daß eine solche Krankheit nur in einem bewußten Verstand entstehen kann. Was heißen soll, daß ich wenigstens immer noch zu menschlicher geistiger Gesundheit fähig war – oder zu ihrem menschlichen Gegenstück. Jene dagegen, die die Wissenschaft nur als völlig an die äußere Realität des Bloomenveldts angepaßt beurteilen konnte, waren die bewußtseinslosen Bloomenkinder.
     
    Vom Standpunkt eines objektiven wissenschaftlichen Berichts gäbe es nichts Wesentliches zu erzählen außer der endlosen Wiederholung des Kreises jedes Tages.
    Ich erhebe mich bereits erzählend. Mein Magen schreit vor Hunger, und das hohle Pochen in meinem Kopf jagt Funken von statischem Konfetti über mein Blickfeld. Ich fülle meinen Bauch mit Wasser, das ich aus der Vertiefung eines Blatts sammele.
    Ich wende mein Gesicht zum goldenen Antlitz der aufgehenden Sonne, und ich gehe, plappere mit mir selbst. Ich gehe, bis die Sonne ihren Zenith überschritten hat, und ich gehe, bis sie im Westen untergegangen ist. Ich gehe durch die dichter werdende Dunkelheit, bis ich mich nur noch mit den Füßen vortaste. Ich gehe, bis mich die Düfte der Nacht in einen traumlosen Schlaf gleiten lassen.
     
    Die Wissenschaftler haben uns schon vor langer Zeit gesagt, daß die Zeit trotz aller Beweise der Sinne kein regelmäßig gegliedertes Absolutum ist, auf dem sich die Ereignisse aufreihen wie Perlen einer Schnur. Vielmehr ist sie eine Beziehung zwischen Punkten in einer vierdimensionalen Raum-Zeit-Matrix, so daß wir, wenn sich die Ereignisse unterscheiden, ein Zeitintervall zwischen ihnen wahrnehmen. Doch in einem Kristallgitter aus Raum und Zeit, in dem die Ereignisse identisch sind, erleben wir sie als ein simultanes Ereignis.
    Wie draußen so drinnen, denn die Wissenschaftler erklären uns auch, daß Träume, die im Bewußtsein des Träumers Ewigkeiten dauern, buchstäblich binnen Augenblicken ablaufen, wenn man die Dauer ihrer elektrischen Entladungen mit Instrumenten mißt.
    So haben auch Gurus, Schamanen, Mystiker, Sufis und Meister anderer Gebiete die Zeit aus dem Geist verbannt und, wenn auch nicht mit wissenschaftlicher Präzision, einen Seinszustand geschaffen, in dem die Ereignisse mit der transtemporalen Logik der Träume und der Quantenmechanik wahrgenommen werden; dieser Zustand wird manchmal Tao genannt, das Ein-Sof, das Einsteinuniversum, das Große und Eine, die Traumzeit.
    Ja, der alte Stamm, der durch genau dieses Hungern und diese mantrischen Übungen, wie ich sie jetzt vollzog, versuchte, bewußt durch die Traumzeit zu gehen, fand für die Erzählerin der Geschichte, die versucht, sich an diese Zeit zu erinnern, die beste Bezeichnung dafür.
    Denn jeder Heiler wird sagen, daß in einem Bewußtsein, das sich in einem sterbenden Körper erhebt, früher oder später die Grenze zwischen Wachbewußtsein und Schlaf verschwimmt, so daß der Geist seine Wanderschaft in der letzten Zeit der Träume beginnt, während das Fleisch dahinschwindet.
    Je ne sais pas, wann man hätte sagen können, daß ich in die Traumzeit hinüberglitt; denn wir erinnern uns nie an den Augenblick, in dem wir die Grenze zwischen Wachen und Traum überschreiten, und dies um so weniger, wenn wir auch noch lange nach dem Übergang stetig einen Fuß vor den anderen setzen und unsere Wanderschaft träumen.
    Certainement, das goldene Antlitz der Sonne im blauen Himmel über dem Bloomenveldt, das ich wahrnahm, wäre auf jedem astronomischen Instrument zu sehen gewesen. Certainement, ich träumte nicht, daß ich meine Erzählung an die Sonne als Publikum zu richten begann.
    Doch als die Lichtkorona der Sonne zu einem Kreis aus goldenem Haar zu gerinnen begann, als es mir schien, als gebe es in ihrem Antlitz Züge wie in einem menschlichen Gesicht, vraiment, als sie zu sprechen begann, da hatte ich gewiß die Grenze zur Traumzeit überschritten.
    War es Halluzination, Traum oder eine wahre Entrückung in das große und einzige Tao? Wer könnte das beantworten? Und wer wäre in der Lage, solche Unterscheidungen zu

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