Kind des Glücks
selbst, damit ich nicht unbewußt die Geschichten anderer wiederhole; die tausendjährige Geschichte unserer Art, damit ich Wahrheit von Übertreibung trennen kann; die inneren Bedeutungen von Worten und Bildern; die Fähigkeit, die Matrix so kundig zu benutzen wie Willa, um mich über die Vergangenheit ins Bild zu setzen…«
Wir setzten uns unter einen Baldachin am Teich, und ich blickte zum künstlichen Horizont hinaus, wo die imitierten Dünen in einer schimmernden Fata Morgana mit dem gleichermaßen imitierten Himmel verschmolzen. Und ich stellte zu meiner Überraschung fest, daß es mir jetzt gefiel – das Vivarium, das Grand Palais, die Gesellschaft, die ich gefunden hatte, das Leben der Kosmokultur selbst, alles, was der Geschichtenerzählerin der Gypsy Joker einst wie arrogante Eitelkeit und leere Illusion erschienen war.
»Ha, Wendi, du hast wirklich die Wahrheit gesagt, aber ich konnte es nicht glaubten!« rief ich. »Denn ich hätte nie gedacht, daß ich selbst einmal diese Worte aussprechen würde. Ich glaube wirklich, daß ich das wahre innere Leben der Kosmokultur liebe – das Leben, das du mir gezeigt hast! Certainement, ich habe jetzt nicht den Wunsch, es zu verlassen!«
Wendi lachte. »Wie sehr du mich an mich selbst erinnerst!« sagte sie. »Aber auch du mußt lernen, wie ich es lernte, daß es in der Kunst der Geschichtenerzähler mehr zu erlernen gibt, als in all den Annalen und Philosophien der Matrix aufgezeichnet ist, Sunshine. Du mußt die harte Wahrheit des inneren Wissens erlernen.«
»Das innere Wissen?«
»Vraiment. Zuerst mußt du lernen, wenn du wirklich eine Erzählerin der wahren Geschichten des Geistes werden willst, ma petite, daß du das Wissen um die Menschenwelten suchen mußt – naturellement. Aber darüber hinaus mußt du das innere Wissen deines eigenen Geistes suchen. Und dazu braucht man Geduld – eine Eigenschaft, die stets knapp ist –, aber ebenso rücksichtslose Aufrichtigkeit!«
»Meinst du, daß sie mir fehlt?« fragte ich eingeschnappt.
»Bisher gewiß nicht, Geschichtenerzählerin!« erklärte Wendi. »Aber die Autorin der wahren Lügen muß den Eid der Loge ablegen, nämlich daß, komme was wolle, um jeden Preis für die Frau oder gar den Geist selbst, die höchste Verpflichtung des Erzählers die Geschichte selbst sein muß…«
»Je ne comprends pas…«
»Nimm die fragliche Geschichte, Liebes, denn dies ist die Lektion, die du lernen mußt, ehe die Arbeit getan ist«, sagte Wendi. »Ist nicht die Matrixeingabe, die wir fertigstellen müssen, deine eigene Geschichte, my dear, an deren angemessenem Ende das Kind des Glücks, das war, einen Eigennamen für die Frau wählt, die sie geworden ist? Und wäre, was wir bisher aufgezeichnet haben, ein Roman und nicht die Geschichte deines eigenen Lebens, würdest du dann nicht den Wortkristall zornig gegen die Wand werfen, wenn er ohne die angemessene Schlußsequenz endete? Erfordert nicht die Geschichte, der du die Treue schwören mußt, ein Abschlußkapitel mit Pater Pan auf Alpa?«
»Vielleicht hast du recht…«, mußte ich einräumen.
»Vielleicht habe ich recht?« fragte Wendi amüsiert. »Kind, kennst du mich immer noch nicht gut genug, um zu wissen, daß ich immer recht habe und daß es kein Vielleicht dabei gibt?«
»Übergroße Bescheidenheit ist nicht gerade eine deiner Schwächen.«
Wir lachten beide, doch Wendi wurde bald wieder ernst. »Einerseits willst du deine Karriere keinen Augenblick aufschieben und nachdenken, und andererseits fürchtest du, der erste Anblick dieses herrlichsten deiner Liebhaber könnte deine neugefundene intellektuelle Leidenschaft unter einem Tsunami von amour verschütten, so daß du alles wieder aufgibst, um dich als Geliebte an ihn zu klammern, no?«
»Quelle chose!« protestierte ich. »Hältst du mich wirklich für eine Romantikerin, die ihr Leben für eine Liebe fortwirft?«
Wendi legte den Kopf schief, zuckte die Achseln und betrachtete mich jetzt, wie mir schien, eher wie eine gleichberechtigte Schwester. »Quién sabe?« sagte sie fast fröhlich. »Wer wüßte die Antwort, bis die Stunde der Wahrheit schlägt? Aber certainement ist die Geschichte deines Wanderjahrs nicht vorbei, ehe sie kommt, und ebensowenig kann die Geschichte der Flötenspielerin des Bloomenveldts ohne den Höhepunkt dieser Szene angemessen abgeschlossen und in die Matrix eingegeben werden.«
Wendi tätschelte mein Knie und sprach leise weiter. »Das erste sagte ich dir von Frau zu
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